Zum Antikriegstag: „Wir brauchen das Ringen um Wahrheit, wenn alle nur Parolen verbreiten!“

Die „Sozialistische Jugend Deutschlands – die Falken“ in Leverkusen haben uns eingeladen, eine Rede zum Antikriegstag zu halten. Am 31.8.2024 fand dort eine Kundgebung statt. Stefanie Intveen redete für unsere Gruppe für eine „mutige, kluge und friedliche Jugend“:


Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter,
liebe junge, alte und jung gebliebene Menschen,

Danke an die Leverkusener Falken, dass ich hier sprechen darf!

Während wir hier in der Nähe des Chemparks Leverkusen für den Frieden demonstrieren, bombardieren moderne Armeen Industrieanlagen in der Ukraine, in Russland und im Nahen Osten. Sie wollen damit ihre eigene Bevölkerung schützen.

Was soll der Mist? – möchte man ihnen zurufen. Hört auf!

Mit den Worten von Edwin Starr 1970:

War,
what is it good for?
Absolutely nothing!

Hier in Leverkusen stehen immer noch die Hochbunker rund um das Bayer-Werk und erinnern an den Wahnsinn des Zweiten Weltkriegs. Vor 85 Jahren begann das Deutsche Reich seinen Eroberungs- und Vernichtungskrieg mit dem Überfall auf Polen; wenige Jahre später kam der Krieg nach Deutschland zurück. In Köln, wo ich wohne, sind nicht explodierte Fliegerbomben aus dem letzten Krieg bei jeder größeren Baustelle eine Gefahr. 1990 habe ich in Wolgograd Russisch gelernt, dem ehemaligen Stalingrad. Dort gab es immer wieder Unfälle, wenn Kinder Munition aus dem Weltkrieg fanden oder Blindgänger beim Pflügen der Äcker explodierten.

Krieg ist eine völlig idiotische Angelegenheit. Krieg zwischen Industriestaaten ist industriell betriebene Zerstörung und massenhafter Mord. Krieg belastet mehrere nachfolgende Generationen. Man kann erahnen, wie es in Jahrzehnten in der Ostukraine oder Gaza sein wird.

Wer will denn so etwas?

Doch nur die sehr wenigen Leute, die davon profitieren, also die Aktionäre und Angestellten der Rüstungsbetriebe, und diejenigen, die sicher sind, dass sie und ihre Kinder nicht selbst in den Krieg müssen.

Ihr sogenannten Herr’n
Müsst ihr denn Blut vergießen
So lasst das eure fließen
Ihr predigt das so gern!

Das schrieb Boris Vian 1954 in dem Gedicht „Der Deserteur“.

Bei Euch, bei den Falken, habe ich eine Kinder- und Jugendzeitschrift aus diesem Jahr gefunden. Dort ist das Gedicht abgedruckt. In dem Heft geht es auch um den Nahost-Konflikt und wie Ihr Euch angesichts der schrecklichen Gewalt positioniert.

Ich möchte Euch dazu gratulieren und empfehle allen, sich das Heft aus dem Netz zu laden.

In der Zeitschrift sagt eine Frau:

Ich habe das Gefühl, dass das, was wir in Deutschland zu dem Konflikt mitbekommen, vor allem eine starke Parteinahme ist. Also man schlägt sich entweder auf die eine oder andere Seite. Man sagt, entweder ist man bedingungslos für Israel oder man ist für Palästina. Und beides erscheint mir sehr undifferenziert, weil es so viele unterschiedliche politische Strömungen dort gibt. Ich denke, es macht daher Sinn, die Stimmen zu unterstützen, die sagen, wir wollen einen Kompromiss finden und wir wollen uns für eine Friedensbewegung einsetzen. Und die gibt es schon in Palästina und Israel.

Wer schickt das Heft an Außenministerin Anna-Lena Baerbock? Аn Verteidigungsminister Boris Pistorius? Аn Bundeskanzler Olaf Scholz?

Wenn schon Kinder und Jugendliche verstehen, dass man einen komplizierten, jahrzehntelangen Streit nicht mit Schwarz-Weiß-Malerei und massenhafter Gewalt beenden kann, dann muss doch auch eine Bundesregierung mit ihren fast unerschöpflichen Mitteln dazu in der Lage sein!

Wir brauchen jetzt

  • die Grautöne zwischen dem Schwarz-Weiß,
  • die Nein-Sager, wenn alle „Ja“ sagen,
  • das genaue Hinschauen, wenn alle behaupten, da gäbe es nichts zu sehen,
  • das Ringen um Wahrheit, wenn alle nur Parolen verbreiten.

In Köln wirbt die Bundeswehr mit einem Riesenplakat an einem Zehn-Meter-Sprungturm im Freibad. Darauf: ein deutsches Kriegsschiff. Aufschrift: „Dein Karrieresprung.“ Wir von der Deutschen Friedensgesellschaft haben unser Banner dagegen gesetzt: „Kein Werben fürs Sterben!“. Die Presse hat berichtet.

Übrigens sind die gegen China gerichteten Drohgebärden mit deutschen Kriegsschiffen im südchinesischen Meer nicht besser als zu Zeiten von Kaiser Wilhelm, nur weil sie heute nicht mehr Teil einer deutschen, sondern einer US-amerikanischen Herrschaftsstrategie sind. Deutsche Kriegsschiffe haben dort nichts zu suchen!

Erasmus von Rotterdam schrieb 1517 über diejenigen, die für die Kriege seiner Zeit verantwortlich waren:

Sie sagen, sie würden dazu gezwungen und würden ungern genug in den Krieg verwickelt. Aber reiße dir die Maske vom Gesicht, wasche die Schminke ab, gehe in dich, und du wirst sehen, dass dich Zorn, Ehrgeiz und Dummheit dahin getrieben haben und nicht die Notwendigkeit (…).“

A propos „Ehrgeiz“: Könnt Ihr Euch an das geleakte Gespräch der höchsten Luftwaffenoffiziere erinnern, die diskutiert haben, ob und wie man die Brücke von Kertsch, die Russland mit der Krim verbindet, mit deutschen Taurus-Marschflugkörpern zerstören könnte? Da plaudern vier Jungs über einen tollen Streich, so scheint es. Tatsächlich spielen sie mit dem Risiko eines Dritten Weltkriegs, nämlich der direkten Konfrontation zwischen der NATO und Russland. Wir machen uns keine Illusionen: die spielen Russisches Roulette, und ihr Einsatz sind wir alle.

Wir brauchen in Deutschland eine neue Verständigung darüber, dass Krieg kein angemessenes Mittel der Politik ist. Erasmus von Rotterdam dazu:

Stelle einmal alle die Posten in Rechnung, die der Krieg fordert und mit sich bringt und du wirst sehen, was für ein Gewinn dabei herausschaut.

Er findet:

Ein Friede kann nicht so ungerecht sein, dass er nicht auch dem ‚gerechtesten‘ Kriege vorzuziehen wäre.

Lieber zehn Jahre verhandeln, als eine Minute Krieg führen!

Krieg ist, wenn alte Männer, die sich persönlich kennen, junge Leute, die sich nie begegnet sind und keinen Streit miteinander haben, dazu bringen, sich gegenseitig massenhaft umzubringen. Das klappt nur mit Schwarz-Weiß-Malerei, mit Lug und Trug, mit Propaganda, die sich an die eigene Bevölkerung richtet. Wir machen da nicht mit!

Wir sehen nicht ein, weshalb die Deutschen den Ukrainekrieg unterstützen sollten, wenn sich die USA und Deutschland seit Jahrzehnten weigern, mit Russland über Systeme gemeinsamer Sicherheit zu verhandeln. Eine gemeinsame Sicherheit ist im Interesse aller Menschen auf unserem eurasischen Doppelkontinent und weltweit. Denn der wichtigste Kriegsgrund aus russischer Sicht sind Schritte des Westens, das sogenannte strategische Gleichgewicht der Atommächte, das seit der Kubakrise mühevoll im Lot gehalten wurde, zu zerstören. Warum gibt es dazu keine Verhandlungen? Wann unterzeichnet Deutschland den Atomwaffenverbotsvertrag der Vereinten Nationen, der seit 2021 in Kraft ist?

Der vor zweieinhalb Jahren eskalierte Krieg in der Ukraine beweist nur das, was wir immer und immer wieder gesagt haben: Sicherheit und Frieden in Europa sind nur möglich mit Russland, nicht gegen Russland. Der russische Einmarsch in die Ukraine mag noch so illegal, grausam, dumm und verbrecherisch sein: Es ist die verhandlungsfeindliche, verlogene und gegenüber der ukrainischen Bevölkerung herzlose Politik der Bundesregierung und des Westens, die unsere Sicherheit in erster Linie gefährden.

Deswegen, Herr Pistorius: Vergessen Sie Ihr Projekt – Sie werden uns nicht kriegstüchtig machen können, wir werden friedensfähig sein!

Wir weigern uns, Feinde zu sein! Wir berufen uns auf Erasmus von Rotterdam, auf Gandhi, Martin Luther King, Nelson Mandela, den indischen Friedensaktivisten Raja Gopal und unzählige weitere kluge Menschen in der Vergangenheit und Gegenwart.

Wir werden die Feindschaft bekämpfen, nicht die „Feinde“!

Wir kämpfen für unsere Rechte und für die aller Menschen. Wir sind solidarisch mit allen, die mit friedlichen Mitteln Frieden schaffen, im Nahen Osten, in der Ukraine und Russland, bei uns in Deutschland und weltweit.

Wir reden mit Andersdenkenden, wir haben den Mut, „dagegen“ zu sein.

Wir erinnern an die Menschen, die sich friedlich zwischen die Fronten stellen.

Wir unterstützen alle, die den Kriegsdienst verweigern. Wir widersetzen uns, wenn notwendig, und wir machen das mutig, gut gelaunt und mit friedlichen Mitteln!

Ich danke Euch und wünsche ein sonniges Wochenende!

Zeitungsausschnitt mit Foto vom Felsendom in Jerusalem

„Was bedeutet ‚doppelte Solidarität‘?“ – Ausschnitt aus der Jugendzeitschrift „Freundschaft“ der Kinder- und Jugendorganisation „Die Falken“, Ausgabe 1/2024


Stefanie Intveen ist seit dem Sturz der ukrainischen Regierung im Februar 2014 in der Friedensbewegung engagiert. Seit 2016 ist sie Ko-Sprecherin der DFG-VK Gruppe Köln.

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