Zum Nachlesen: ukrainische und russische Kriegsdienstentzieher in Köln: „Warum sollen wir für nationalistische Wirtschaftsinteressen von Oligarchen sterben?“

Die Friedensdemonstration in Köln am 24. Februar 2024 „Frieden, Brot, Würde – in der Ukraine und weltweit“ wurde mit einer gemeinsam vorgetragenen Erklärung des ukrainischen Studenten und Kriegsdienstentziehers Andrii und des russischen Kriegsdienstentziehers Jewgenij Arefiev eröffnet. Wir dokumentieren hier ihre berührende und überzeugende Rede. Ein Videomitschnitt ist am Ende des Textes.


Andrii: Hi! Geboren und aufgewachsen bin ich in Kirowograd, einer kleinen Großstadt in der Zentralukraine. In der Region und in einer Stadt, in der seit Jahrhunderten die friedliche Nachbarschaft von Kirchen mit Synagogen und die Verschmelzung von Ethnien und Kulturen nicht nur eine Selbstverständlichkeit war, sondern als wesentlich für den Frieden und das Wohlergehen der Gesellschaft galt. Diese grundlegende Bedeutung des Verständnisses füreinander und die bereichernde Wirkung einer solchen Verschmelzung konnte ich schon als Kind in der Schule, im Freundeskreis und in der eigenen Familie erleben.

Doch 2021, ein Jahr bevor die Gewalt in der Ukraine ihr heutiges Ausmaß erreichte, verließ ich mein Heimatland und kam als Student nach Köln.

Jewgenij: Guten Tag! Friedliche Grüße aus der Friedens- und Garnisonsstadt Münster! Die Lehre des Westfälischen Friedens heißt “Verhandeln statt schießen!”. Wir müssen nicht 25 Jahre Krieg warten, um die Verhandlungen anzufangen, die dann 5 Jahre dauern, um den 30-jährigen Krieg zu beenden.

Ich freue mich sehr, dass wir heute in Köln gemeinsam für den Frieden demonstrieren, ganz international – Russinnen, Russen, Ukrainerinnen, Ukrainer und Deutsche!

Ich bin 1994 vor 30 Jahren mit 22 aus der russischen Partnerstadt von Münster – Rjasan – zum Studium nach Münster gekommen. Das war dank der Friedenspolitik von Michail Gorbatschow möglich. Für die Zeit des Studiums wurde ich vom Militärdienst befreit, bis zum Alter von 27 Jahren. Ich habe mich nicht beeilt, das Studium davor abzuschließen, habe mich in der Hochschulpolitik engagiert, u.a. für die Zivilklausel – Studium, Lehre und Forschung sollen friedlichen Zwecken dienen.

Andrii: Meine Auswanderung nach Deutschland war nicht spontan und die Richtung war von vornherein festgelegt. Die Länder, die mir als Biochemiestudent gute Studien- und Berufschancen bieten konnten, waren genau die Länder, die auf den Prinzipien der Verständigung, des Respekts und der Kommunikation zwischen den gesellschaftlichen Gruppen aufgebaut sind. Auf der Grundlage all dessen, was in meinem Heimatland immer weniger Platz fand.

Zu meinem Leid in meinem Heimatland konnte ich auch erleben, wie die vorher unbedeutenden Unterschiede künstlich aufgewertet, instrumentalisiert und für politische Zwecke missbraucht werden. Ich konnte sehen, wie die kleinsten kulturellen Eigenheiten als unüberwindbare Brüche, als Ursachen aller gesellschaftlichen Widersprüche und auch als Erklärung für jedes Scheitern der Regierungspolitik hingestellt wurden.

Ich habe erlebt, wie Politiker und Fernsehmoderatoren, aber auch Lehrer an Schulen und Universitäten versuchen, die Mitschüler, Kommilitonen und Familienmitglieder von gestern als zombifizierte Wilde abzustempeln, die nicht in der Lage sind, eigenständige Entscheidungen zu treffen, und deren Beschwerden und Argumente nichts anderes als Feindpropaganda sind und als solche abgetan werden müssen. Man konnte sehen, dass viele Menschen, die die grundsätzliche Abscheulichkeit dessen, was geschah, erkannten, immer noch glaubten, dass dieser Hass kontrollierbar sei, dass dieser Hass irgendwie zum Wohle der Allgemeinheit kanalisiert werden könne.

Dieser Hass ist aber im Grunde unkontrollierbar.

Dieser Hass, geschürt durch Ressentiments, vergiftet und zerstört Freundschaften, Familien, ganze Länder und breitet sich über deren Grenzen aus.

Und wenn alle Verantwortung auf die Schultern des Feindes abgewälzt wird, wenn der Feind selbst entmenschlicht wird, wenn selbst der Wunsch nach Frieden und Kompromissen in der Gesellschaft als persönliche Beleidigung empfunden wird, dann dreht sich die Spirale der Gewalt. Und mit jedem neuen Soldaten und jeder neuen Granate dreht sich diese Spirale weiter und weiter. Was schützen soll, gibt falsche Hoffnung auf Frieden durch Gewalt und Zerstörung und führt immer weiter weg von einer Lösung. Nach kurzer Zeit will sich niemand mehr daran erinnern, wie winzig die anfänglichen Widersprüche waren, und kaum jemand will innehalten und erkennen, wohin unser Kriegsmodus uns geführt hat.

Heute sehe ich sehr deutlich, dass bewaffnete Konflikte nicht durch die Radikalisierung breiter Bevölkerungsschichten entstehen. Sie entstehen durch die unverhältnismäßig einflussreiche und laute Minderheit der Kriegsbefürworter, aber auch durch Apathie und das Schweigen der Mehrheit. Nur durch das Füllen des medialen Raums mit dem monotonen Mantra vom gerechten Krieg und den Orks, von Menschentieren und dem Recht auf Verteidigung, nur so kann sich diese kleine Minderheit sich als Mehrheit darstellen und die gesamte Gesellschaft im Kriegsmodus halten.

Und gerade wegen der Kriege und des regierenden Kriegsmodus hat die wahre Mehrheit, die unter den Bombardierungen in den Kriegsgebieten, aber auch unter der Inflation im Westen und einfach dem Hunger im Süden leidet, gerade deshalb hat diese Mehrheit das Recht und die Pflicht, die Politik der Spaltung in „wir“ und „die“ abzulehnen, die andere Seite nicht als Feind zu brandmarken und die Rückkehr zum Dialog zu fordern. Zu einem Dialog, der es ermöglicht, den Vormarsch der extremen politischen Kräfte in Russland und in der Ukraine aber auch in Israel, in Europa und in den USA zu stoppen. Die Demokratie ist weltweit bedroht, und nur eine weltweite Ablehnung konfrontativer Politik kann den Radikalen den Wind aus den Segeln nehmen und die Demokratien sichern. Wir sehen keine Lösung für diesen oder irgendeinen anderen modernen Krieg in den Kanonenrohren, die Lösung liegt ausschließlich im gegenseitigen Verständnis und in einer Weltordnung, in der das Streben nach gegenseitigem Nutzen und Frieden über den Egoismus der Gruppen dominiert.

Mit jedem neuen Tag zerstört dieser Krieg die Ukraine weiter. Die Waffenlieferungen, die bravouröse Unterstützung des Krieges durch die Verbündeten, die Kriegstreiberei, die großen PR-Siege an der Front und die neuen Opfer – all das dient den Bedürfnissen der Politiker, nicht den Bedürfnissen meines Landes. Mein Land braucht realistische und durchführbare Friedensinitiativen und einen sofortigen Waffenstillstand. Der Kriegsmodus hat schon mehrere Länder vor unseren Augen in die Katastrophe geführt, versuchen wir nun, laut und überzeugend genug zu sein, um das Gleiche hier zu verhindern und es anderswo zu beheben.

Jewgenij: In der Sowjetunion wurde ich bereits als Schüler auf den Militärdienst und auf den Krieg – in der Schule und in einer Kaserne – vorbereitet, habe gelernt zu schießen. Ich habe mich über das Ende von heißen und kalten Kriegen gefreut. Wir haben die Völkerverständigung gelebt. 1993 habe ich die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Universitäten Münster und Rjasan initiiert und am Institut für Politikwissenschaft der Uni Münster in dem Projekt gearbeitet.

Jetzt liegt die städtepartnerschaftliche und wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Russland auf Eis, auch zwischen Köln und Wolgograd, ehemals Stalingrad. Wie soll dieser Abbruch von zivilgesellschaftlichem Austausch uns dem Frieden näherbringen?
Die Politik muss endlich der Friedenslogik und nicht der Kriegslogik folgen!

Ich engagiere mich in der Friedensbewegung seit dem völkerrechts- und grundgesetzwidrigen Krieg der Bundesrepublik Deutschland gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, dem bereits vergessenen Krieg nach dem Ende des 2. Weltkriegs in Europa, mit uranabgereicherter Munition, die nachhaltig tötet. Jetzt wird in der Ukraine die uranabgereicherte Munition aus den USA eingesetzt.

Jeder Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit!

Im Krieg gibt es keine Gewinner, sondern nur Verlierer!

Menschenrechte für Alle!

Das internationale Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung muss vor allem im Krieg eingehalten werden! Wir fordern Schutz und Asyl für alle Deserteurinnen und Deserteure, Kriegsdienstgegnerinnen und Kriegsdienstgegner, Kriegsdienstentzieherinnen und Kriegsdienstentzieher! Die internationale Solidarität! Die ukrainischen Studierenden an den deutschen Hochschulen sollen aus der Ukraine ungehindert ausreisen dürfen!

Die Waffenlobbyistin Strack-Zimmermann, Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, von der FDP, der so genannten „Freien Demokratischen Partei“, hat im Interview dem YouTube-Kanal “Jung & Naiv” gesagt, sie würde ihren eigenen Sohn nicht in den Krieg schicken. Die Ukraine soll aber bis zum letzten Mann kämpfen? Für Deutschland!? Mit deutschen Waffen!? Vom deutschen Boden soll nie wieder Krieg ausgehen! Aber wo bleibt die notleidende Wirtschaft und die Ressourcen am Hindukusch, Struck, Strack-Zimmermann?

Ein ukrainischer Freund hat mir erzählt, er habe Putin verstanden und sei 3 Tage vor dem Krieg mit seiner Ehefrau und 2 kleinen Kindern nach Deutschland geflüchtet. Danach war sein Haus zerstört. Jetzt sagt er, er habe „Pistolerius“ verstanden, den deutschen Verteidigungsminister, demnächst Kriegsminister. Oder ist Deutschland nicht längst Kriegspartei nach dem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, in dem es heißt: wenn Deutschland die ukrainischen Soldaten auf dem deutschen Boden an schweren Waffen ausbildet, spätestens dann ist Deutschland Kriegspartei. Das ist passiert: letztes Jahr hat Deutschland damit angefangen. Deutschland ist jetzt Kriegspartei. Nachdem der deutsche Verteidigungsminister gesagt hat, Deutschland müsse kriegstüchtig werden, hat der ukrainische Freund von mir ihn verstanden und sucht jetzt sich und seiner Familie ein anderes, ein sichereres Land.

Jeden Tag sterben Menschen im Krieg! Dieser Stellvertreterkrieg wird zynisch Abnutzungskrieg genannt. Es wird ein Sieg der Ukraine gegen Russland gefordert, Sieg für Deutschland, Sieg für die Freiheit. Wie stellt man sich diese Freiheit vor und wessen Freiheit soll das sein? Was nützt diese Freiheit den Toten und den Überlebenden? Heißt es nicht aus der deutschen Geschichte lernen: “Lieber rot als tot!”?
Kann eine Atommacht besiegt werden? Bringen noch mehr Atomwaffen eine Abschreckung oder Schrecken ohne Ende?

Die Atomwaffen müssen vernichtet werden, bevor die Menschheit vernichtet wird! – Hiroshima und Nagasaki mahnen.

Unser schöner blauer Planet Erde wird durch Kriege zerstört!

Warum sollen wir wegen der Grenzen, für die nationalistischen Wirtschaftsinteressen der Oligarchen sterben? Wie schön wäre die Erde ohne Grenzen so wie Juri Gagarin sie gesehen hat! Blau, grün, schön.

Dieser Krieg muss so schnell wie möglich enden!

Deswegen ist es notwendig, die Politik von immer tödlicheren Waffenlieferungen zu beenden. Die diplomatische Initiative muss her!
Bedürfnisse von Menschen, die Rettung des Klimas, humanitäre Hilfe tun not und nicht die Geopolitik!

„Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“, hat Bertolt Brecht gesagt. Deswegen bin ich gerne Pazifist und kein „gefallener Engel“ wie (Bundeskanzler) Scholz behauptet hat.

Hiermit schließen wir unseren Friedensvertrag! Frieden heißt nicht nur „mir“ auf Russisch und Ukrainisch, sondern auch Welt! Frieden der Welt!


Schöne Fotos der Friedensdemo am 24.2.2024 finden sich bei r-mediabase.


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