Matthias Engelke beim Flaggentag in Köln: „Waffe, mit der man glaubt, Gott spielen zu können“

Pfarrer Dr. Matthias Engelke hielt am 8. Juli 2020 vor dem Historischen Rathaus Köln eine Rede zum Flaggentag der „Mayors for Peace“ (Bürgermeister*innen für den Frieden).


Liebe Freundinnen und Freunde des Friedens! 

Seit zehn Jahren steige ich Jahr für Jahr hinab in die Tiefen des Schreckens, für die die Namen Hiroshima und Nagasaki stehen. 

Am 6. August 1945 wurde durch eine Uran-Bombe der Vereinigten Staaten von Amerika Hiroshima zerstört, am 9. August vernichtete eine Plutonium-Bombe die mehrheitlich von Katholiken bewohnte Stadt Nagasaki. 

Vom Bürgermeister TAKESHI ARAKI von Hiroshima ging 1982 die Initiative der Bürgermeister für den Frieden aus. Da Städte zuallererst die Ziele und Opfer von Kriegen und dann auch Atombombeneinsätzen werden, begründete er die weltweite Bewegung der Bürgermeister, die sich für eine atomwaffenfreie Welt einsetzen. Köln wurde Mitglied der Bürgermeister für den Frieden. 

Mit dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofes von Den Haag am 8. Juli 1996 wurde festgestellt, dass die Androhung und Anwendung von Atombomben grundsätzlich völkerrechtswidrig sind. Bei einem Einsatz militärischer Gewalt schreibt das Völkerrecht zwingend vor, dass zwischen Soldaten und Zivilisten unterscheiden wird. Das ist bei einer Atombombe gerade nicht der Fall. 

Selbst bei den neuen, angeblich kleinen Atombomben, wie sie gegenwärtig von den Vereinigten Staaten von Amerika propagiert werden, ist diese Unterscheidung nicht möglich. 

Die Taschenkarte der Bundeswehrsoldaten für den Einsatz von ABC- Waffen sagt es eindeutig: Sie sind nicht erlaubt. 

Also stellen sich Fragen:
Warum wird die Ächtung von ABC-Waffen nicht im Grundgesetz verankert?
Warum tritt Deutschland nicht dem Atomwaffenverbotsvertrag der Vereinten Nationen von 2017 bei? 

Die Flagge der „Mayors for Peace“ oder „Bürgermeister für den Frieden“ vor dem Rathausturm in Köln, 8.7.2020. Foto: Stefanie Intveen

Wir sind als friedensbewegte Kölner froh, dass wir in einer Stadt leben, die dieser Bewegung, Bürgermeister für den Frieden, beigetreten ist, und sind allen dafür dankbar, die sich dafür eingesetzt haben. Wir setzen uns dafür ein, dass dies mit Leben erfüllt wird, dafür sind wir hier. Viele von uns setzen sich genauso auch an etlichen anderen Stellen unserer Stadt dafür ein, Leid zu lindern und Not zu bekämpfen, wo Mensch und Mitwelt davon betroffen sind. 

Da wo Not ist, das ist eben auch in Büchel in der Eifel der Fall, wo die Atombomben der Vereinigten Staaten von Amerika lagern. Deutschen Piloten üben damit die sogenannte nukleare Teilhabe. Das ist ungeschminkt gesagt: die Mitverantwortung für ein Verbrechen an der Menschlichkeit und an der Menschheit.

Jahr für Jahr halte ich eine öffentliche Fastenaktion, bis die Atomwaffen der Vereinigten Staaten von Amerika aus Deutschland abgezogen sein werden. Öffentlich zelebriere ich die Ohnmacht, die die Atomwaffen bei uns und allen, die unter ihrem Schrecken, terreur, ihrem Terror stehen, erzeugt. Wie alles, was Ohnmacht erzeugt, ist dies höchst gefährlich und weckt Gewaltphantasien. Atombomben wirken in sich also bereits sicherheitsgefährdend. 

Was uns tief im Innersten zersetzt und moralisch unfähig macht, ein Verbrechen Verbrechen zu nennen und die eigene Mitverantwortung zu ergründen, einzugestehen, zu beenden und abzulegen, das lege ich nach außen auf die Straße und Plätze, wo in dieser Fastenaktion das Fastenzelt aufgeschlagen wird. 

Jedes Jahr, solange die Atomwaffen der Vereinigten Staaten von Amerika noch in Deutschland lagern, einen Tag länger. Jedes Jahr fange ich einen Tag eher an. Vor 11 Jahren fing ich am 5. August abends an, in Anlehnung an die Gedenkfeier in Hiroshima am 6. August und beendete sie am 9. August. In diesem Jahr beginnt diese Internationale öffentliche Fastenaktion am Abend des 26. Juli und endet am 9. August am Atomwaffenlager in Büchel, in der Eifel. 

Im Gandhischen Sinn verstehe ich diese Fastenaktion als eine Erfahrung mit der Wahrheit. Wie Gandhi lebe ich während dieser Zeit von Wasser und Tee und esse nichts. Mein Arzt empfahl mir zusätzlich eine Elektrolytenlösung und wegen meiner Augen und Zähne nehme ich täglich den Saft einer halben Zitrone zu mir, mehr nicht. 

Mit diesem Fasten richte ich mich an die Bürger in Uniform, die Soldaten: Gebt euren Zweifeln endlich Raum! Steht dazu, dass es euch selbst unheimlich vorkommt, was da von euch gefordert wird. Als Bürger in Uniform habt ihr ein völkerrechtlich und grundgesetzlich gedecktes Recht, zu dem, was da geübt wird, ‚Nein‘ zu sagen. 

Ich richte mich an die Bürger in Zivil: Unterstützt die Soldaten, die zu den Atomwaffen „Nein!“ sagen! Gebt der Abscheu vor dieser Massenvernichtungswaffe Raum! Geht auf die Straßen und fordert von der Bundesregierung ein Ende der nuklearen Teilnahme! 

Ein mittelalter Mann mit hellem Trenchcoat und schwarzer Mütze spricht in ein Mikro. Im Hintergrund ist ein Banner mit "atomwaffenfrei Jetzt!" zu erkennen.

Pfr. Dr. Matthias Engelke am 8.7.2020 vor dem Rathaus in Köln. Foto: Stefanie Intveen

Denn die Bundesregierung ist es, die – bei allen Farbwechseln – an der Lagerung, dem Üben und damit auch Drohen und möglichen Einsatz der Atombomben in Büchel festhält. Jahr für Jahr versuche ich mehr und besser zu verstehen, warum bislang jede Bundesregierung an den Atombomben der Vereinigten Staaten von Amerika festhält und festgehalten hat. 

Dabei stieß ich auf die Gegenwart des Gewaltglaubens: Es ist der Glaube mit Hilfe von Gewalt Probleme lösen zu wollen. Es ist ein Glaube, der mit Hilfe von Angst in die Leiber versenkt wird. 

Was im Alltag der Schule von vielen fantastischen Lehrerinnen und Lehrern mit Schülern und Schülerinnen mit Bravour Tag für Tag eingeübt wird: gewaltfrei Konflikte zu lösen, wird hier von der Regierung mit Hohn bedacht. Es sind kindische Allmachtsphantasien mit apokalyptischen Ausmaßen im Besitz einer Waffe sein zu wollen, mit der man glaubt, Gott spielen zu können. Dabei hat sich Gott längst von dieser kindischen Gewaltverherrlichung abgekehrt und ist in Jesus von Nazareth den anderen Weg gegangen: dass Gewaltfreiheit, Liebe und Wahrheit stärker als Tod, Drohen und Angst sind.

In diesem Jahr, 75 Jahre nach Kriegsende, 75 Jahre nach der Detonation der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki, gilt es neu, sich dem Schrecken zu stellen. Denn die Gründe, warum es diese Ausgeburten menschlichen Denkens und Könnens gibt, sind noch längst nicht ergründet, nicht benannt und erst recht noch nicht beseitigt worden. 

Dabei gleicht die Auseinandersetzung mit den Atomwaffen der Auseinandersetzung um die Massenvernichtung europäischer Juden in Auschwitz. Der Philosoph und Bildungstheoretiker Georg Picht gab seinem Werk „Hier und Jetzt“ den Untertitel „Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima“. Damit ist das Thema genannt. 

Von vielen Deutschen, verhaftet im Gewaltglauben, wurde die deutsche Teilung als Strafe für die Verbrechen in Auschwitz ertragen. Nach der Wiedervereinigung wurde der Ruf laut, wieder „normal“ sein zu wollen – was auch immer das heißt. Zuvor aber hat schon die Überidentifikation im Westen mit einem der Sieger, den Vereinigten Staaten von Amerika, dazu geführt, so sein zu wollen wie sie, und hat damit den Gewaltglauben weitergeführt. 

Was bedeutet es, dass ihr Verbrechen bei der Auslöschung der Städte von Hiroshima und Nagasaki bis heute straffrei geblieben ist? Kein deutscher Staatsanwalt hat bislang die Zivilcourage gezeigt, Strafanzeige zu stellen, um dieses Verbrechen auch strafrechtlich zu verfolgen und so zu seiner Ächtung beizutragen. Diese Straffreiheit für einen Massenmord durch die Anwendung zweier Atomwaffen ermöglichte damit, ein System hoffähig zu machen, das mit der gegenseitigen garantierten Auslöschung,
der Massenvernichtung droht, verharmlosend genannt das System der nuklearen Abschreckung. 

Hat dabei in Deutschland der Gedanke mitgespielt: „Wenn selbst die Amis so etwas Furchtbares gemacht haben und dabei straffrei ausgingen, kann Auschwitz nicht so schlimm gewesen sein“? 

Die Gründe, warum es einen wissenschaftlich-bürokratisch- industriellen Komplex der Massenvernichtung gab, der Auschwitz möglich machte, haben wir angefangen aufzuklären, spät und unzureichend. Gott sei es gedankt und vielen mutigen Männern und Frauen. 

Warum es aber diesen Komplex gibt, mit Rüstungsindustrie und Bankkapital, mit Mehrheiten in Parlamenten und einer Armee mit – das kann ich als ehemaliger Militärpfarrer mit Fug und Recht sagen – meistens total netten Bürgerinnen und Bürgern in Uniform, die alle zusammen es ermöglichen, dass es diese Monstren von Atombomben heute gibt – diese Gründe sind noch nicht erkundet, benannt und beseitigt worden. Es ist Zeit, mehr dafür zu tun! 

Wir sind hier aus Leidenschaft für das Leben. Darum wollen wir wissen, warum diese Verbrechen möglich waren, Auschwitz und Treblinka, Hiroshima und Nagasaki. Unsere Leidenschaft für das Leben treibt uns dazu, für eine menschliche Zukunft aller Menschen einzutreten. Darum verdammen wir den Kulturmord durch Fanatismus, den Umweltmord durch Umweltzerstörung und den Kindermord und das Menschenopfern durch Zukunftsverweigerung durch die menschengemachte nukleare Strahlung:
Sie bewirkt genetische Schäden noch nach Generationen nach dem Einsatz und Test von Atombomben und Munition mit abgereichertem Uran. 

Unsere Abscheu vor der Atomwaffe ist keine kindische Abwehrreaktion, die das Böse in dieser Welt nicht wahrhaben will, sondern eine christlich, ethisch, moralisch, juristisch und nicht zuletzt eine rein menschlich zutiefst begründete Haltung! Sie ist gepaart mit dem Erschrecken über mich, über uns selbst, wie böse wir waren und sind, wenn wir zur Lagerung, Androhung, dem Üben und dann auch Einsatz von Atombomben bereit sind, oder dem auch nur gleichgültig waren und sind. Denn kein Mensch hat ein Hiroshima oder Nagasaki verdient. 

Mit dieser Haltung laden wir alle ein, sich dem anzuschließen. Bereits morgen besteht dazu erneut Gelegenheit mit der erstmalig in Köln am vergangenen Monat begonnenen Nagasaki-Schweigezeit an jedem 9. eines Monats – in Erinnerung an die Auslöschung von Nagasaki: es soll die letzte Stadt sein, die durch eine Atombombe zerstört wurde – um 17.15 Uhr vor der Antoniterkirche für den Abzug der Atomwaffen der Vereinigten Staaten von Amerika aus Deutschland.

Diese Waffen haben weder in Deutschland noch irgendwo anders etwas zu suchen. Wir wollen eine atomwaffenfreie Welt! Wir fordern: Zieht die Atomwaffen ab! Sie gehören zerlegt in ein – noch zu gründendes – Museum, das die Überwindung von Unmenschlichkeit dokumentiert. Um die Abscheu vor solchen Gewaltverbrechen und die Leidenschaft für das Leben zu wecken.

Ich danke für die Aufmerksamkeit. 

In lockerer Runde stehen etwa zwei Dutzend Leute zum Teil mit geöffneten Regenschirmen um einen Redner herum, der unter dem Fassadenvorsprung eines modernen Betongebäudes steht.

Mitwirkende und Zuhörer*innen beim Flaggentag im „Corona-Abstand“ vor dem Rathaus in Köln, 8.7.2020. Foto: Stefanie Intveen


Dr. Matthias Engelke ist evangelischer Pfarrer und Friedenstheologe. Er engagiert sich beim Internationalen Versöhnungsbund und dem Förderkreis Darmstädter Signal. Wir bedanken uns für die Möglichkeit, seine Rede hier zu veröffentlichen.

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