Josef Opladen: „Wir (die Lämmer) könnten auch etwas sagen!“

Zwei unserer Mitglieder regten bei unserem Gruppentreffen am 23.6.2022 mit einer Buchbesprechung zur Diskussion über Mechanismen der Macht in Demokratien an. Es handelt sich um das 2019 erschienene Buch „Warum schweigen die Lämmer? Wie Elitendemokratie und Neoliberalismus unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstören“ von Rainer Mausfeld. Wir dokumentieren hier den Beitrag von Josef Opladen.


Warum schweigen die Lämmer?
Was bedeutet dieser Titel?
Vielleicht: wir (die Lämmer) könnten stattdessen auch etwas sagen!

Der Untertitel dieses Sachbuchs von Rainer Mausfeld heißt: wie die Eliten-Demokratie und der Neoliberalismus unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstören.

Das ist starker Tobak! Aber dies zu begründen versucht der Autor in neun Kapiteln plus Vor- und Nachwort. Die einzelnen Kapitel sind in sich abgeschlossene Vorträge oder auch Interviews. Rainer Mausfeld war bis 2016 Professor für Allgemeine Psychologie an der Universität Kiel. Seit 2015 hält er Vorträge unter anderem zu den Themen politische Propaganda und Manipulation. Ebenso analysiert er die parlamentarische Demokratie und übt Kritik an ihr. Die einzelnen Kapitel sind für sich abgeschlossen und rund und mit Quellen belegt. Neben Vorträgen gibt es auch Interviews zum Beispiel mit Jens Wernicke, der früher bei den Nachdenkseiten mitgearbeitet hat und jetzt die Zeitschrift Rubikon herausgibt oder anderen (Marko Junghänel).

Es gibt eine Reihe von Rezensionen, die ein Meinungsspektrum vom „Schwurbler“ bis „absolut zutreffend“ abbilden.

Alle einzelnen Kapitel sind interessant und arbeiten sich durch zum Beispiel das Unsichtbar-machen von Kriegsverbrechen, das Managen von Demokratie oder
die massenmediale Indoktrination bis hin zur Einschränkung des öffentlichen Debatten-Raums.

Wir wollen und können hier nur einige Beispiele aufzeigen, die in diesem Buch beschrieben sind. Ich würde gerne mit der Einschränkung des öffentlichen Debattenraums beginnen, weil der in der letzten Zeit sehr offensichtlich geworden ist. Wir müssen aber erst über Demokratie reden.

Ein Ölbild zeigt eine im Vordergrund lagernde kleine Schafherde mit einem auf den Stock gestützten Hirten und Hund vorne links in einer weiten sommerlichen Landschaft.

Aelbert Cuyp: Schafherde auf der Weide, um 1645-55

Die Demokratie als Herrschaftsform begrenzt für die Herrschenden die Ausübung politischer Macht und zwar so stark, wie in keiner anderen Herrschaftsform. Aus der Perspektive derjenigen, die Macht ausüben, ist die Demokratie zwangsläufig wenig attraktiv. Trotzdem hat die Demokratie seit Mitte des 19. Jahrhunderts einen beispiellosen Siegeszug angetreten und gilt heute als einzig legitimierte Herrschaftsform. Da zum Wesen der Macht gehört, dass sie sich nicht selbst begrenzt, sondern nach Ausweitung drängt, ist es eigentlich paradox, dass sich die Demokratie durchgesetzt hat. Vom Volk aus betrachtet übt die Idee einer politischen Selbstbestimmung eine besondere Faszination aus. Jeder von uns hat Widerwillen, einem fremden Willen unterworfen zu sein. Das im Wort Demokratie angelegte emanzipatorische Versprechen erfüllt also grundlegende Bedürfnisse der Menschen, oder anders ausgedrückt, der Machtunterworfenen.

Die Machtunterworfenen sind in der absoluten Mehrzahl. Von daher dürfte es nicht so einfach sein, dass die vielen von wenigen regiert werden. Abgesehen von brutaler Unterdrückung bleibt den Herrschenden nur die Möglichkeit, sich ihre Macht abzusichern, indem sie die Meinung kontrollieren. Hierfür verfügen sie über ein umfassendes Arsenal von Techniken, die unter Beteiligung verschiedener Wissenschaften systematisch entwickelt wurden und werden. Hierzu gehören zum Beispiel Bedeutungsverschiebungen vertrauter und positiv besetzter Begriffe wie aktuell Solidarität (in der Corona- oder Ukraine Krise) oder Freiheit, Gerechtigkeit, Liberalisierung, Reformen und eben auch Demokratie. Gerade der Begriff Demokratie erfordert aus der Perspektive der herrschenden besondere Anstrengungen, um den durch ihn hervorgerufenen Eindruck politischer Selbstbestimmung zu erhalten und zugleich das mit ihm verbundene Risiko für die Stabilität von Machtverhältnissen wirksam zu entschärfen. Ursprünglich bedeutete Demokratie die politische Selbstbestimmung des Volkes, und zwar nicht nur bezogen auf eine Wahl pro Legislaturperiode.

Nach Ingeborg Maus bedeutet Demokratie in der Theorie die Vergesellschaftung der Herrschaft. Sie ist egalitär, d. h. alle und jeder werden als freie und gleiche anerkannt und zwar ungeachtet ihrer faktischen Differenzen. Dabei sind alle Staatsapparate dem demokratischen Gesetz unterworfen. Eine solche Demokratie geht aber nur, wenn alle die gesellschaftliche Welt zumindest soweit verstehen, dass sie sich über die Folgen ihrer Gesetzgebung im Klaren sind.

Aber genau eine solche Begriffsverschiebung ist in Bezug auf Demokratie gelungen, indem man erreicht hat, dass wir heute unsere demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten auf unsere Abgeordneten übertragen und damit aus der Hand gegeben haben. Man kann auch sagen, dass heute mit dem Begriff Demokratie eine Fremdbestimmung durch politisch-ökonomische Eliten verbunden wird, wobei der Begriff Demokratie immer noch suggeriert, dass dem Freiheitsbedürfnis der Machtunterworfenen Rechnung getragen wurde und damit auch die existierenden gesellschaftlichen Verhältnisse oder Probleme gerade Ausdruck des Willens des Volkes seien. Es lässt sich kaum ein wirksameres Mittel gegen Widerstände finden, als die Illusion der politischen Selbstbestimmung. Mausfeld führt an, dass genau eine solche Bedeutungsverschiebung des Wortes Demokratie in den vergangenen mehr als 100 Jahren in so durchschlagender Weise gelungen ist, dass die heutigen Formen westlicher kapitalistischer Demokratien für die herrschenden Machtverhältnisse völlig risikofrei sind.

Obwohl das Spannungsverhältnis zwischen dem emanzipatorischen Versprechen und den tatsächlichen Machtverhältnissen für die Bevölkerung tagtäglich erfahrbar ist, braucht es ein wirksames Demokratiemanagement. Dies ist darauf aus, das Bewusstsein der Bürger zu manipulieren, sodass sie unfähig sind, angemessene Schlüsse aus ihrer politischen Erfahrungswelt zu ziehen. Zu dieser Erfahrungsrealität gehört insbesondere die Tatsache, dass die Bürger an sämtlichen relevanten politischen Entscheidungen keinen Anteil haben (siehe Reaktion der Politik auf den Ukraine Krieg). Zu den Manipulationsmöglichkeiten gehören Gefühle der Ohnmacht und Angst, mit denen man die Neigung erhöht, den Status quo zu bewahren. Ein anderes Mittel ist der Konsumismus und die mediale Überflutung mit Nichtigkeiten (Genderthema).

Man kann mit klassischen Techniken der Indoktrination ein „falsches Bewusstsein“ erzeugen. Man kann durch die konsequente Umformung der Bürger zu bloßen Konsumenten insgesamt die Befähigung blockieren, überhaupt politische Überzeugungen auszubilden. Man kann durch ein geeignetes Empörungsmanagement das Veränderungsbedürfnis der Bürger auf Scheinziele ablenken. Und man kann, wie es Noam Chomsky beschreibt,

das Spektrum akzeptabler Meinung strikt begrenzen, aber eine sehr lebhafte Debatte innerhalb dieses Spektrums ermöglichen – und sogar kritische und abweichende Ansichten fördern. Das gibt den Menschen das Gefühl, dass freies Denken stattfindet, während die Voraussetzungen des Systems immer wieder durch die Grenzen des zulässigen Bereichs der Debatte verfestigt werden.

Bei dieser Methode geht es nicht nur darum, Menschen bestimmte ideologische Meinungen einzutrichtern oder eine ideologische Rahmenerzählung durchzusetzen, sondern gleichsam komplementär darum, ganze Denkmöglichkeiten für die Öffentlichkeit unsichtbar zu machen. Je besser dies gelingt, desto stärker wird die herrschende Ideologie als alternativlos empfunden.
Hier spielen die Medien eine entscheidende Rolle. Nach Mausfeld haben die Leitmedien offensichtlich jedes Maß an Kritik und Skepsis verloren, das Weltbild transatlantischer neoliberaler Eliten zu vermitteln. Das hat zur Folge, dass die Medien Fakten, die nicht in dieses Weltbild passen, immer hemmungsloser verschweigen oder verzerren. So erschaffen sie medial eine gesellschaftliche und soziale Realität, in der die wichtigsten Fragen gar nicht erst vorkommen und die tatsächlichen Konflikte vernebelt und verschleiert werden. Selbst der damalige FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher warnte in Anbetracht dieser Entwicklungen im Jahre 2009 in Bezug auf die öffentlich-rechtlichen Medien vor den Gefahren einer staatlich kontrollierten Bewusstseinsindustrie. Aber es geht nicht einfach um eine Sparte im Bereich kapitalistischer Warenproduktion, die Bewusstsein zu einer Ware gemacht hat. Vielmehr ist der gesamte Bereich der öffentlichen Meinung längst so tief und flächendeckend von Mechanismen der Ideologievermittlung durchzogen, dass sich die eigentliche Tiefenindoktrination aus der bestehenden sozialen Ordnung (praktisch auf sich selbst verweisend) zu nähren vermag. Wir alle sind unbewusst mehr oder weniger zu ihrem Träger geworden und stützen und verbreiten die Ideologie täglich. Als Beispiel nennt er die Leistungsgesellschaft. In ihr wird der soziale Status eines Menschen durch seine individuell erbrachten Leistungen bestimmt. Alleine durch das Anbieten einer Chancengerechtigkeit wäre somit die Gesellschaft gerecht: wer oben ist, ist zu Recht oben und wer unten ist, ist es selbst schuld, er hätte sich ja mehr anstrengen können. Weitere Beispiele sind der freie Markt oder die westliche Wertegemeinschaft, deren Taten von wohlwollenden und hehren Idealen geleitet seien.

Zu guter Letzt noch ein anschauliches Beispiel, wie unterschiedlich der Begriff Neoliberalismus definiert wird.

Neoliberalismus verständlich & knapp definiert. (Definition aus „Rechnungswesen-verstehen“):

Unter Neoliberalismus versteht man eine Wirtschaftstheorie, bei der dem Markt freien Lauf gelassen wird. Dabei werden von der Regierung marktorientierte Reformen vorgenommen. Darunter gehört die Deregulierung, die Privatisierung und die Reduktion von staatlichen Sozialleistungen.

Dazu die Definition der Bundeszentrale für politische Bildung:

Neoliberalismus ist eine Denkrichtung des Liberalismus, die eine freiheitliche, marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung mit den entsprechenden Gestaltungsmerkmalen wie privates Eigentum an den Produktionsmitteln, freie Preisbildung, Wettbewerbs- und Gewerbefreiheit anstrebt, staatliche Eingriffe in die Wirtschaft jedoch nicht ganz ablehnt, sondern auf ein Minimum beschränken will.

Auch hier wird eine Begriffsverschiebung deutlich, da zum einen der Staat noch minimal regulierend eingreifen darf, in der ersten Definition aber selbst verpflichtet ist, marktorientierte Reformen vorzunehmen.

Meine Bewertung ist, dass es sich überaus lohnt, sich mit den Gedanken und Thesen des Buches auseinanderzusetzen, weil es einfach den Blick für die Zusammenhänge eröffnet, die uns oft im Alltag verloren gehen. Da dieses Buch viel Stoff bietet, ist es umso erfreulicher, dass man jedes einzelne Kapitel als in sich abgeschlossen lesen kann.


Wir bedanken uns bei Josef für die Möglichkeit, seinen Beitrag hier zu veröffentlichen.

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