Josef Freise: Frieden schaffen mit oder ohne Waffen? Der Ukrainekrieg und die christliche Friedensethik

Wir veröffentlichen den folgenden Vortrag, den der Theologe und Pädagoge Prof. em. Dr. Josef Freise am 7. Juli 2022 im Katholischen Forum Koblenz gehalten hat:


Einleitung

Es ist ein lang gehegter Wunsch, der Krieg möge aus der Welt verbannt werden, so wie die Sklaverei zumindest als juristisch feststellbarer Tatbestand abgeschafft werden konnte. Doch Krieg ist nie aus der Welt verschwunden und die katholische Gemeinschaft Sant’ Egidio hat eine Liste mit 26 Kriegen auf der Welt für den Monat Juni 2022 erstellt. Mit dem Krieg in der Ukraine ist die Kriegsbedrohung nahe an uns herangerückt und hat einen bisher unvorstellbaren Umschwung im Denken hin zu massiver Aufrüstung mit sich gebracht. Was sagen Christinnen und Christen, was sagt die christliche Friedensethik zum Krieg? Welche Stellung beziehen die christlichen Kirchen? Darum wird es heute gehen. Es werden unterschiedliche kirchliche Positionen dargelegt werden und am Ende steht die Suche nach Auswegen aus dem Krieg aus christlicher Perspektive.

Die biblische Grundlage

Gewalt ist in den Geschichten der Menschheit von Anfang an präsent. Das Buch Genesis der Bibel berichtet, wie die zwischenmenschliche Harmonie zwischen Kain und Abel zerstört wird, indem Kain seinen Bruder Abel tötet. Das Alte Testament erzählt von vielen Gewalttaten und ist zugleich voller Hoffnungsbilder des Friedens. Jesaja (Jes. 11,6) beschreibt einen paradiesischen Tierfrieden:

Da wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein, Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten.

Jesaja und Micha sehen in Jerusalem den Berg des Herrn, zu dem alle Völker in friedlicher Absicht ziehen (Mi 4,1-4):

Denn von Zion kommt die Weisung, aus Jerusalem kommt das Wort des Herrn. Er spricht Recht im Streit vieler Völker, er weist mächtige Nationen zurecht bis in die Ferne. Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen. Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk, und übt nicht mehr für den Krieg. Jeder sitzt unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum und niemand schreckt ihn auf.

Als Jesus öffentlich auftritt und die Ankunft des Reiches Gottes verkündet, sieht er sich in dieser Tradition der Friedenspropheten.

Theologinnen und Theologen sind sich heute weitestgehend einig, dass Jesus selbst jede Form von Gewalt abgelehnt hat. Er wollte das Böse durch das Gute überwinden und war eher bereit zu leiden, das Kreuz auf sich zu nehmen und zu sterben, als anderen Gewalt anzutun. Als Petrus ihn vor seiner Verhaftung verteidigen will, geht er ihn barsch an (Mt 26,52):

Steck dein Schwert in die Scheide.

Jesus preist die selig, die keine Gewalt anwenden, denn sie werden Land gewinnen, das Land erben. Für die Christen der ersten beiden Jahrhunderte war der Totalpazifismus völlig selbstverständlich (Angenendt). Schon weil auch der römische Kaiser göttlich verehrt wurde, wäre es nicht in Frage gekommen, ihm militärisch zu dienen. Das ändert sich mit Kaiser Konstantin, der den christlichen Glauben annimmt. Soldaten, die sich zum Christentum bekehrten, standen nach der Konstantinischen Wende vor der Frage, ob sie nun ihren Militärdienst verlassen müssten. Sie konnten sich dann auf Jesu Reaktion im Lukasevangelium berufen, wo er Soldaten antwortete bei deren Frage, was sie denn tun sollten, um das ewige Leben zu erhalten (Lk 3,14):

Misshandelt und erpresst niemanden, sondern gebt euch mit eurem Sold zufrieden!

Die Lehre vom gerechten Krieg

Hier kann nicht die gesamten Kirchengeschichte unter dem Aspekt des Krieges behandelt werden. Dann wäre auch von der teilweise gewalttätigen Missionierung zu berichten. Religion kann immer auch von Herrschenden missbraucht werden, die sich als Stellvertreter Gottes berechtigt fühlen, ihre eigenen Interessen im Namen Gottes gewaltsam durchzusetzen. Was die Kirchengeschichte theologisch geprägt hat, war die Lehre des Gerechten Krieges, für die Augustinus die Grundlage erstellte. Auch wenn sie später missbraucht wurde, war sie eine Lehre zur Verhinderung bzw. mindestens zur Eingrenzung des Krieges. Krieg ist nach dieser Lehre nur als Reaktion auf eine schwere Störung der äußeren Gerechtigkeit und der sozialen Ordnung erlaubt. Es müssen bestimmte Obergrenzen von Gewalt eingehalten werden. Folter und Todesstrafe sind abzulehnen. Thomas von Aquin hat die Lehre vom gerechten Krieg weiter ausgearbeitet: Der Krieg muss in rechter Absicht geschehen. Er ist nur erlaubt, um die Armen und den Start vor weiteren Anschlägen zu schützen. Krieg ist nur als letztes Mittel erlaubt. Es muss eine begründete Hoffnung auf Erfolg geben. Die Mittel müssen verhältnismäßig sein. Es muss zwischen Kämpfenden und Zivilisten unterschieden werden. Einige dieser Aspekte wurden in das Völkerrecht übernommen.

Heute ist die Lehre vom Gerechten Krieg in Zeiten der Massenvernichtungswaffen überholt; von einer Verhältnismäßigkeit der Mittel kann nicht mehr gesprochen werden. Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein; wir brauchen einen Gerechten Frieden.

Gewaltfreie Zugänge und die Kriegsdienstverweigerung

In der Kirchengeschichte gab es immer wieder neue Strömungen, die die konsequente Gewaltfreiheit Jesu in das Zentrum christlichen Lebens stellten. Erasmus von Rotterdam ist bekümmert über die Absurdität des Krieges zwischen christlichen Völkern:

In beiden Heerlagern werden Gottesdienste gefeiert. Ist das nicht etwas Ungeheuerliches? Das Kreuz kämpft mit dem Kreuz.

Der Kirchenhistoriker Arnold Angenendt erinnert an den spanischen Humanisten, Philosophen und Pädagogen Juan Luis Vives, für den schon im 16. Jahrhundert Krieg durch nichts zu rechtfertigen war. Franz von Assisi lebte ganz aus dem Geist der Bergpredigt und ging unbewaffnet in das Heerlager der Muslime. Im Rahmen der reformatorischen Bewegungen entstanden die historischen Friedenskirchen der Quäker, der Mennoniten und die Church of the Brethren. Kriegsdienstverweigerung ist für sie konstitutiver Teil der Nachfolge Jesu. In der katholischen Kirche war Kriegsdienstverweigerung lange Zeit undenkbar und auch noch im Nationalsozialismus unvorstellbar. Der österreichische Bauer Franz Jägerstätter verweigerte im Nationalsozialismus den Wehrdienst und bezahlte das mit dem Leben. Als er seinem Pfarrer und seinem Bischof erläutern wollte, dass er Hitlers Krieg für nicht vereinbar mit der Lehre vom gerechten Krieg halte, wurde ihm kühl entgegnet, die Klärung dieser Frage solle er getrost in Theologen und der Amtskirche überlassen. Erst das Zweite Vatikanische Konzil erkennt diejenigen an,

die aus Gewissensgründen Wehrdienst verweigern, vorausgesetzt, dass sie zu einer anderen Form des Dienstes an der menschlichen Gemeinschaft bereit sind.

Dass es zu diesem Absatz in der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes kam, verdanken wir wenigen pazifistischen katholischen Christinnen und Christen wie Dorothy Day von Catholic Worker in den USA und Jean Goss und Hildegard Goss-Mayr vom Internationalen Versöhnungsbund, denen es gelangt, den brasilianischen Bischof Dom Helder Camara und einige wenige andere, zumeist lateinamerikanische Bischöfe von der Gewaltfreiheit Jesu zu überzeugen.

Im Folgenden werden aktuelle friedensethische Ansätze in den christlichen Kirchen noch einmal kurz skizziert, die sich in der Frage der Gewaltanwendung unterscheiden: Die eine Richtung sieht die Nutzung militärischer Gewalt unter Umständen als gerechtfertigt an; die andere Richtung vertritt die Gewaltfreiheit Jesu konsequent und lehnt militärische Gewalt grundsätzlich ab. Niemand kann sagen, er oder sie habe die Wahrheit für sich gepachtet; Vertreter*innen beider Richtungen sollten die jeweilig andere Meinung als eine vielleicht notwendig kritische Anfrage an ihre Position wahrnehmen, so dass wir tiefer in die Wahrheit finden. Im Anschluss an die Darstellung der beiden Ansätze werden Auffassungen vorgestellt, die in der öffentlichen Meinung derzeit stark vertreten werden und nicht mit einer christlichen Grundhaltung vereinbar sind.

Friedensethik, die Gewalt zur Selbstverteidigung im Kriegsfall rechtfertigt

Die Erklärung der Bischöflichen Kommission Justitia et Pax zum Ukraine-Krieg sieht in diesem Krieg den Einsatz von Waffen zur Verteidigung des Landes gegen die russische aggressive Intervention als gerechtfertigt an:

Das in der Lehre der Kirche bejahte und im Völkerrecht verankerte Recht auf Selbstverteidigung ist im Falle der Ukraine völlig unbestritten gegeben. Entsprechend sind auch klug gewählte Waffenlieferungen legitim, wenn nicht sogar ethisch gefordert.

Für die Evangelische Kirche im Rheinland bezieht Jörgen Klußmann ähnlich Stellung, wenn er Bezug zur UN-Charta nimmt:

Die UN-Charta räumt das Recht auf Selbstverteidigung im Falle eines völkerrechtswidrigen Angriffs ein. Die Ukraine verteidigt sich also zu Recht. Und sie verteidigt damit auch die Freiheit, die durch die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit überhaupt erst garantiert werden. Werte, an die auch wir in Europa und im Westen glauben und für die wir bisher auch immer wieder eingetreten sind. Unser ganzes Konstrukt einer internationalen Sicherheitsarchitektur – Menschen- und Völkerrecht – basiert auf diesen Werten.

Klußmann bezieht sich außerdem auf die Friedensdenkschrift der EKD aus dem Jahr 2007, in der eingeräumt werde, dass Gewalt dann eingesetzt werden kann, wenn sie Menschen- und Völkerrecht verteidigt. Klußmann sieht darin eine Rechtfertigung für „Recht schaffende Gewalt“. Er steht damit in der Tradition evangelischer Situationsethik, die keine festen Regeln und Gesetze vertritt, sondern je nach Situation zu Entscheidungen kommt.

Mehrere regenbogenfarbig leuchtende Friedensflaggen, die an langen, in eine Wiese gebohrten Stöcken hängen. Im Hintergrund dunkelgrüner Wald.

Friedensflaggen. Foto: Stefanie Intveen

Auch wenn der Einsatz militärischer Gewalt in Ausnahmesituationen zur Verhinderung schlimmerer Gewalt in bestimmten Traditionen christlicher Friedensethik als möglich angesehen wird, sind doch einzelne Formulierungen der genannten Ansätze bedenklich: Wenn gesagt wird, Waffeneinsatz sei ethisch gefordert, dann ist der Weg bis zum Segnen der Waffen nicht mehr weit. Der Einsatz von Waffen ist und bleibt immer ein Übel – er kann vielleicht ein größeres Übel verhindern. Das sollte jede christliche Stellungnahme auch so formulieren. Der Gedanke der „Recht schaffenden Gewalt“ mag für gerichtlich angeordnete Hausdurchsuchungen gelten, aber nicht für kriegerische Gewalt. Eine solche Formulierung verschleiert, dass kriegerische Gewalt nicht nur Leid und Tod mit sich bringt, sondern auch neues Unrecht schafft.

Papst Franziskus spricht nicht von einem ethisch geforderten Waffeneinsatz und von Recht schaffender Gewalt. Er zeigt im Ukrainekrieg zwar Verständnis dafür, dass sich das ukrainische Volk militärisch verteidigen will, rechtfertigt die Gewalt aber nicht. Gewalt sei immer Ausdruck des Kainsmals, das wir als Menschen alle tragen. Für Papst Franziskus bleibt klar, dass Jesu Botschaft auf Gewaltüberwindung durch Gewaltverzicht ausgerichtet ist. Friedensethik macht auf das Dilemma aufmerksam, dass wir Menschen oft so in Gewalt verstrickt sind, dass wir nicht schuldlos herausfinden: Wenn ich Gewalt anwende, werde ich schuldig. Aber auch wenn ich keine Gewalt anwende und zusehe, wie neben mir Menschen unschuldig zu Opfern der Gewalt werden, kann ich schuldig werden.

Auf Gewaltverzicht ausgerichtete christliche Friedensethik

– Zivile und soziale Verteidigung

Auf den konsequenten Gewaltverzicht Jesu berufen sich pazifistische Theologinnen und Theologen und verweisen darauf, dass es Erfahrungen mit zivilem gewaltfreiem Widerstand gibt, der auch Opfer erfordert, aber eben Opfer zumeist von denen, die sich freiwillig der Gewalt in den Weg stellen, während Soldaten oft gegen ihren Willen im militärischen Gehorsam an die Front müssen und geopfert werden.

Am konsequentesten hat in Deutschland der katholische Theologe Egon Spiegel von der Universität Vechta die pazifistische Position aus dem christlichen Glauben heraus formuliert. Er empfiehlt den Ukrainern, die weiße Fahne zu hissen und stattdessen mit gewaltfreien Mitteln Widerstand zu leisten. Er beruft sich dabei auf Jesus: „Überwindet das Böse mit dem Guten“ und verweist zugleich auf die Forschungen der Friedenswissenschaft, die viele Beispiele der gewaltfreien Konfliktbewältigung bereit hält. Auch wenn es vielen von uns illusionär erscheint, sollten wir uns zumindest ein von Vertreter*innen der Sozialen Verteidigung verfochtenes Szenario einmal vor Augen führen: Was wäre passiert, wenn sich die Regierung von Präsident Selenskyi ins Exil begeben hätte und die Bevölkerung aufgefordert hätte, nicht mit den Besatzern zu kooperieren? Was wäre geschehen, wenn Hunderttausende prominente und einfache Menschen aus dem internationalen Ausland zum Demonstrieren nach Kiew und an die Grenzübergänge gegangen wären und gewaltfrei gegen den Einmarsch der russischen Truppen demonstriert hätten? Es gibt keine Garantie für den Erfolg solcher Aktionen, und schon gar nicht für schnellen Erfolg. Mahatma Gandhi hat vor jeder seiner Aktionen lange gebetet und gefastet, um in seinem Innern sich zu vergewissern, ob die jeweils geplante Aktion erfolgreich sein könne in dem Sinne, dass sie das Gewissen von Menschen auf der gegnerischen Seite anrühren kann, ob die Herrschenden auf der gegnerischen Seite dadurch von diesen, in ihrem Gewissen angesprochenen Gefolgsleuten infrage gestellt würden oder ob die Aktion einfach nur sinnlos Menschenleben fordere. So utopisch uns die gewaltfreie Reaktion auf militärische Gewalt erscheint, so sehr sollten wir sie doch nicht einfach abtun. Der Aufruf Jesu, das Böse durch das Gute zu überwinden, muss für uns ein Stachel bleiben, dem wir uns aussetzen.

Exkurs: Dietrich Bonhoeffers Anfrage bei Mahatma Gandhi

Dietrich Bonhoeffer wollte Mahatma Gandhi und seinen Ashram in Indien besuchen und dort sich in Gewaltfreiheit ausbilden lassen.Vor wenigen Jahren hat die Geschichtsforschung eine Kopie des Briefs von Dietrich Bonhoeffer an Mahatma Gandhi aus dem Jahr 1934 gefunden, und dieser Brief ist heute vielleicht aktueller denn je:

Es hat keinen Sinn, die Zukunft vorauszusagen, die in Gottes Hand liegt; aber wenn uns nicht alle Zeichen täuschen, läuft alles auf einen Krieg in naher Zukunft hinaus; und der nächste Krieg wird gewiss den geistlichen Tod Europas zur Folge haben. Deshalb brauchen wir in unseren Ländern eine wirklich geistlich geprägte und lebendige christliche Friedensbewegung. Die westliche Christenheit muss aus der Bergpredigt neu geboren werden; das ist der entscheidende Grund dafür, dass ich Ihnen schreibe. Aus all dem, was ich von Ihnen und Ihrer Arbeit weiß, nachdem ich Ihre Bücher und Ihre Bewegung über einige Jahre studiert habe, schließe ich, dass wir westlichen Christinnen und Christen von Ihnen lernen sollten, was mit dem Wirklich werden des Glaubens gemeint ist und was ein Leben erreichen kann, das dem politischen Frieden und dem Frieden zwischen ethnischen Gruppen gewidmet ist. Wenn es irgendwo ein sichtbares Beispiel für das Erreichen solcher Ziele gibt, sehe ich es in Ihrer Bewegung. Ich weiß selbstverständlich, dass Sie kein getaufter Christ sind; doch die Menschen, deren Glauben Jesus pries, gehörten zumeist auch nicht zu der offiziellen Kirche ihrer Zeit. Wir haben große Theologen in Deutschland – der größte von ihnen ist nach meiner Überzeugung Karl Barth, dessen Schüler und Freund ich glücklicherweise bin –, die uns von neuem die großen theologischen Gedanken der Reformation lehren; aber keiner zeigt uns den Weg zu einem neuen christlichen Leben in kompromissloser Übereinstimmung mit der Bergpredigt. In dieser Hinsicht suche ich bei Ihnen Hilfe.

Die große Bewunderung, die ich für Ihr Land, seine Philosophie und seine Führer, für Ihr persönliches Wirken unter den Ärmsten Ihrer Mitmenschen, für Ihre erzieherischen Ideale, für Ihr Eintreten für Frieden und Gewaltlosigkeit, für die Wahrheit und ihre Kraft empfinde, hat mich dazu gebracht, dass ich unbedingt im nächsten Winter nach Indien kommen möchte – und zwar zusammen mit einem Freund, der durch die gleichen Gedanken und Fragen bewegt ist. Er ist Physiker und Ingenieur. In ganz Europa bin ich gereist und habe ich gelebt. Ich fuhr in die USA, um zu finden, wonach ich suchte; doch ich fand es nicht. Ich möchte mir nicht selbst vorwerfen müssen, dass ich eine große Gelegenheit in meinem Leben versäumt habe, um die Bedeutung christlichen Lebens, eines wirklichen Gemeinschaftslebens, von Wahrheit und Liebe in der Wirklichkeit zu verstehen. Die Frage, die ich Ihnen vorlegen möchte, ist, ob ich die Erlaubnis erhalte, mit Ihnen einige Zeit in Ihrem Ashram zu verbringen, um Ihre Bewegung zu studieren.

Leider ist es zu dieser Reise Bonhoeffers nach Indien nicht gekommen, weil die Bekennende Kirche ihn für die Leitung des Predigerseminars in Finkenwalde anfragte.

Soziale Verteidigung und die Ukraine

Ein Großteil der ukrainischen Bevölkerung sprach sich noch wenige Monate vor Kriegsbeginn für einem nichtmilitärischen Widerstand aus. Die Geschichtswissenschaftler werden zu erforschen haben, was den Meinungsumschwung brachte.

Ziel des nichtmilitärischen Widerstands – mit internationalen Sanktionen, mit Streik und zivilem Ungehorsam – ist es, die Aufenthaltskosten für die Besatzer so hoch zu setzen, dass sie irgendwann die Besatzung aufgeben. Es geht nicht in erster Linie darum, Putin zu bekehren. Auch wenn christlicher Glaube an das Gute im Menschen nie die Hoffnung aufgibt, dass sich ein Mensch ändern kann, wäre es hier konkret ein naiver Glaube, Putin akut zu bekehren. Aber auch ein Diktator wie Putin braucht Unterstützung. Die Idee ist, ihm in Russland und international seine Unterstützer abspenstig zu machen – sei es durch das Ansprechen des Gewissens der Gefolgsleute oder – z. B. durch Sanktionen – durch das Ansprechen ihrer Interessen, die sie bei einer weiteren Unterstützung Putins gefährdet sehen.

Die Debatte geht dann oft auch um die Frage, ob ziviler Widerstand erfolgversprechend sei, und was überhaupt als Erfolg zu bewerten sei. Die Friedensforschung kann eine Fülle von Beispielen aufzeigen, bei denen gewaltfreier Widerstand erfolgreich war. Aber gilt das auch im Fall des Ukrainekriegs? Hätte sich die russische Führung von gewaltfreiem Widerstand beeindrucken lassen oder wäre sie nicht einfach weitermarschiert – später auch nach Moldawien, Litauen,…? Wir stecken hier in einer Aporie. Eine Einzelperson kann auf Gewalt verzichten und die Konsequenzen für sich tragen. Ein politischer Mensch muss aber auch die Konsequenzen des Gewaltverzichts für alle berücksichtigen. Wer sich der aktiven Gewaltfreiheit in der Nachfolge Jesu verpflichtet sieht, muss deshalb nicht militärische Gewalt grundsätzlich und immer ablehnen, aber er oder sie kann sich gewaltfrei und nichtmilitärisch einsetzen. Eine pazifistische Person kann, wie das in vielen Kirchengemeinden bei uns dankenswerterweise geschieht, mit anderen Menschen gemeinsam Geflüchtete aus der Ukraine aufnehmen, Medikamententransporte in die Ukraine auf den Weg bringen, Kriegsdienstverweigerer aus Russland und der Ukraine unterstützen. Im Fall des Ukrainekriegs hat der Ruf nach gewaltfreiem Widerstand jetzt wenig Chance der Umsetzung, da sich die Regierung für den militärischen Weg entschieden hat.

Wir sollten aber dieses Ziel nicht aus dem Auge verlieren: Krieg wird dann abgeschafft sein, wenn in Gewaltfreiheit gebildete und erfahrene Menschen, Gruppen und Völker auf einen kriegerischen Angriff nicht mehr kriegerisch reagieren, wenn sie stattdessen kreativ und mutig Wege finden, das Gewissen von genügend Menschen und Gruppen auf der gegnerischen Seite so anzusprechen, dass diese der kriegerischen Aggression ihre Unterstützung entziehen, sodass die Aggression erfolglos bleibt.

– Die Suche nach einer Verhandlungslösung in jeder Gewaltsituation: das Beispiel Sant’ Egidio

Ein kleines Mädchin in rotem Sommerkleid schaut verträumt vom Betrachter weg, während es eine große grau-weiße Weltkugel wie einen Luftballon an einem Faden hält. Bild auf dem Fuß einer Betonwand angebracht.

Graffito in Köln-Mülheim, 14.1.2022. Foto: Stefanie Intveen

Es gibt auch die andere Position, die besagt, dass im Ausnahmefall Gewalt zum Stoppen von größerer Gewalt nötig ist, dass dann aber doch vor einer Gewalteskalation schnell wieder zu nichtmilitärischer Konfliktregelung zurückgekehrt werden muss. Dies kann als eine verantwortungsethische pazifistische Position bezeichnet werden: Gewalt ist nicht immer auszuschließen, aber wir sind immer aufgerufen, Wege aus der Gewalt heraus zu finden. Die US- Polizei musste bei dem Versuch der Erstürmung des Kapitols Gewalt androhen und einsetzen, um den Mob abzuwehren, der das Kapitol stürmen und die Demokratie abschaffen wollte. Militärische Gegengewalt der Ukraine am 24. Februar 2022, die gegen den unerwarteten Einmarsch der russischen Truppen ein Stoppschild setzen wollte, ist so gesehen nachvollziehbar. Die Frage ist, wie man dann aus der Gewaltspirale wieder herauskommt: Wir sehen jetzt die Auswirkungen des Krieges mit immer stärkeren Waffen. Einzelne vom Westen gelieferten Panzerabwehrraketen sind mit Uran angereichert, um die Panzer zu durchdringen;

schon im Irakkrieg wurden diese Raketen eingesetzt und die Uranverseuchung hat Krebs ausgelöst und viele Kinder getötet. Verantwortungsethischer Pazifismus als eine zu jeder Zeit auf Gewaltüberwindung und Gewaltverzicht ausgerichtete Haltung versucht im Krieg unablässig, einen Verhandlungsfrieden zu erreichen. Dieser Verhandlungsfriede mag ein Kompromiss sein, der von einzelnen als ungerecht empfunden wird. Aber er verhindert das weitere Töten. In den Verhandlungen zur Waffenruhe können die von den einzelnen Kriegsparteien als Ungerechtigkeit empfundenen Situationen benannt und schriftlich fixiert werden; es kommt zuerst einmal darauf an, die Waffen zum Schweigen zu bringen.

Es geht auch nicht darum, ausschließlich an die Vernunft des Gegenüber zu appellieren. In der sogenannten politischen Power-Mediation spielt es eine große Rolle, die Interessen der einzelnen Kriegsparteien anzusprechen.

Das macht die Schwierigkeit eines Verhandlungsfriedens aus: Es gibt oft mächtige Interessen, die für die Weiterführung des Kriegs sprechen. In den USA gibt es Kräfte, die auf eine dauerhafte Schwächung Russlands setzen. Die Erweiterung der NATO durch den baldigen Beitritts Schwedens und Finnlands ist ein Gewinn,

die US-amerikanischen Getreide-, Waffen- und Gasexporteure freuen sich über Bestellungen.

Le Monde Diplomatique resümiert mit Zynismus:

Warum sollten die US-Strategen das Ende eines Krieges herbeiwünschen, der ihnen dermaßen in die Karten spielt?

Der aus der Ukraine stammende russische Generalsekretär der KPDSU Nikita Chruschtschow sagte anlässlich der Kuba-Krise 1962:

Jeder Idiot kann einen Krieg anfangen, aber hundert Genies werden Probleme haben ihn zu beenden.

Nur wenn deutlich wird, dass ein Weiterführen des Kriegs mehr Nachteile als Vorteile bringt, kann es überhaupt eine Verhandlungsbereitschaft geben.

Große Verdienste hat sich die Katholische Gemeinschaft Sant’ Egidio bei der Vermittlung in Kriegen und Bürgerkriegen erworben. Ihr „Geheimnis“ ist das Herstellen von verlässlichen Beziehungen über Mittelsleute zu den führenden Personen der jeweiligen Kriegsparteien.

Über die Mittelsleute wird herausgefunden, was die jeweilige Kriegspartei zum Aufgaben ihrer Kriegsführung bewegen könnte. Wenn diese Vorstellungen diskret an die Vermittler übermittelt wurden, wird versucht, im Austausch über die Mittelsleute herauszufinden, was die Gegenseite von den Überlegungen hält, wie es ggf. zu einer Vermittlung und einem Kompromiss kommen könnte.

– Militärische Gewaltstrukturen schrittweise abbauen und „Sicherheit neu denken“

Es gibt ganz offensichtlich zwei Wege christlicher Friedensethik: den Weg des konsequenten Gewaltverzichts ohne wenn und aber und den Weg derer, die kriegerische Gewalt im Ausnahmefall als Mittel zur Gewaltminderung einsetzen wollen, um Schlimmeres zu verhindern.

Es ist unproduktiv, hier sich bei der Frage zu verkämpfen, welches die richtige Position sei. Wir haben zwei Wege und wer sich für welchen Weg entscheidet, das scheint mit tief eingewurzelten Gefühlen, Erfahrungen und Wertorientierungen zu tun zu haben.

Es gibt eine neue Initiative, die beide Wege miteinander in Verbindung bringt. Sie heißt „Sicherheit neu denken“. Diese Initiative geht einfach von dem Fakt aus, dass es Kriege in der Welt gibt und dass es Militär für die Führung dieser Kriege gibt. Dies als Tatsache einfach festzustellen führt zu dem Gedanken, dass wir einen Prozess brauchen, der zur Abschaffung des Kriegs führt – gerade auch unter Berücksichtigung der nuklearen Bedrohung, die bei der Kriegsbeteiligung von Nuklearmächten immer vorhanden ist. Wir brauchen inklusive Sicherheitssysteme, die Feindschaften abbauen. Schrittweise soll nationales Militär durch UNO-Truppen ersetzt werden, um dann zu einer Sicherheitsarchitektur zu kommen, in der es nur noch eine internationale Polizei gibt und in der nationales Militär überflüssig wird. Sicherheit wird in diesem Konzept umfassender gedacht, nämlich als ein umfassendes System, das beispielsweise auch die ökologischen Gefahren mitbedenkt, die unseren Planeten aus dem Gleichgewicht bringen können – mit all den Folgen einer weltweiten Flucht und Migration aus Regionen der Erde, in denen ein Überleben unmöglich wird.

Was nicht dem Frieden dient

Viel wichtiger als der Streit über pazifistische und weniger pazifistische Positionen ist es, deutlich zu machen, was keine friedensorientierte, christliche Position sein kann.

Passivität

Mit dem christlichen Glauben unvereinbar ist eine Haltung der Passivität gegenüber Unrecht. Wer Wirtschaftssanktionen gegenüber russischen Oligarchen beispielsweise jetzt grundsätzlich ablehnt und – aus welchen Motiven auch immer – die aus Russland gestreuten Fake News als bare Münze weiter verbreitet, wie dies innerhalb der AFD passiert, vertritt keine wertegeleitete Position.

Glaube an die erlösende Macht militärischer Gewalt

Es kann gleichermaßen keine christliche Position sein, den Frieden ausschließlich durch Waffengewalt erringen zu wollen. Wenn wir uns die derzeitige öffentliche Diskussion anschauen, dann scheint es immer mehr Mainstream-Meinung zu werden, dass uns die schweren Waffen gegen Russland vom Bösen erlösen könnten. Diesem Mythos der erlösenden Gewalt müssen sich Christen und Christinnen entgegenstellen. Dieser Mythos wird mit oft mit dem Gedanken untermauert: Mit der Bergpredigt kann man keine Politik machen. Diese Aussage wird wie ein Katechismussatz gehandelt. Natürlich kann man nicht die Bergpredigt als fertiges Rezept für die Politik ansehen. Aber es gibt genügend Erfahrungen, wie mit der Bergpredigt Politik gemacht wurde. Mahatma Gandhi war wohl diesbezüglich der begabteste Mensch des 20. Jahrhunderts.

Die Erlösung vom Bösen durch 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr zu erwarten, ist ebenfalls ein unchristlicher Mythos. Es ist unbegreiflich, warum von den Kirchen nicht Geld eingefordert wird für die zivile Verteidigung, für das Erlernen von Gewaltfreier Kommunikation, von sozialer Verteidigung, zivilem Ungehorsam in massiven Unrechtssituationen, von Konfliktbewältigung und Gewaltüberwindung im Geist der Bergpredigt. Die Kirchen dürfen nicht einfach Wiederkäuer des politischen Mainsteams sein. Wir sind aufgefordert, mit dem Leben aus dem Geist Jesu eine Alternative für unsere von Gewalt geprägte Gesellschaft anzubieten. Wenn wir als Christinnen und Christen nicht aufstehen, werden wir uns bald in einer Welt wiederfinden, in der der Krieg wieder schulterzuckend als Normalität hingenommen wird – bis hin zur Gewöhnung an den Gedanken, dass auch mit dem Atombombeneinsatz zu rechnen ist.

Wir sind aufgefordert, uns für den Atomwaffenverbotsvertrag einzusetzen, den bisher 86 Staaten unterzeichnet haben, 65 Staaten haben den Vertrag ratifiziert. Wir müssen Druck auf die Natostaaten machen, dass auch sie sich für umfassende atomare Abrüstung einsetzen. Wer, wenn nicht wir Christinnen und Christen haben u.a. mit Papst Franziskus als mächtigem Fürsprecher an unserer Seite die Möglichkeit und die Verantwortung, hier klare Kante zu zeigen. Leider sind diejenigen, die die Friedenspositionen von Papst Franziskus zur Förderung aktiver Gewaltfreiheit vertreten, in beiden großen Kirchen Deutschlands eine kleine, kaum gehörte Minderheit.

Dämonisierung von Menschen und Völkern

Es ist eindeutig, dass der russische Präsident Putin mit der Invasion in die Ukraine Völkerrecht gebrochen hat. Dafür trägt er alleine die Verantwortung. Es ist inzwischen verpönt darauf hinzuweisen, dass die Verantwortung dafür, wie es zu dieser Situation kam, bei vielen und auch bei der NATO liegt. Der politische Journalist Andreas Zumach, der seit 30 Jahren die internationale Politik bei der UNO verfolgt, hat die Entwicklung detailliert nachgezeichnet, einschließlich der Völkerrechtsbrüche durch die USA und die NATO im Balkankrieg und im Irak. Wir sollten uns hüten vor einem polarisierten Denken nach dem Motto „Wir sind die Guten, Russland und seine Verbündeten sind die Schlechten.“ Auch Papst Franziskus warnt regelmäßig vor einem solchen Denken und wird dafür breit gescholten.

Hüten sollten wir uns auch vor einer Dämonisierung von Menschen und Völkern. Dämonisierung beginnt da, wo von einem Land nur negativ gesprochen wird. Das gilt auch für Menschen. Putin ist ein Mensch, er ist nicht der Teufel. Ja, es gibt das Böse und das Teuflische, und es hat Putin erfasst. Aber das Böse ist nicht auf ihn begrenzt, dass wir sagen könnten: Er ist böse, wir sind gut. Jesus hat die Ansteckungsgefahr durch das Böse, den Teufel, erfahren: „Weiche von mir, Satan“ (Mt 4,10), sagt er zum Versucher in der Wüste und zum bösen Geist in Petrus, als Petrus ihn vom Kreuzweg, vom Weg des Gewaltverzichts abhalten will (Mt 16,23). Dass das Böse ansteckend ist, war im Bundestag spürbar, als bei der Ankündigung des 100 Milliarden-Sonderpakets für die Bundeswehr Abgeordnete gröhlten und sich auf die Schenkel klopften. Wenn man in der Logik des Militärischen notwendig erscheinende Ausgaben für die Bundeswehr beschließt, dann kann das allerhöchstens in einer Haltung der Trauer darum geschehen, dass dieses Geld jetzt für die zentralen Aufgaben der Armutsbekämfung und der Bekämpfung der Klimakatastrophe fehlt.

Der fehlende Blick auf die Opfer

Die militärische Gegenwehr gegen die völkerrechtswidrige russische Militärintervention war der Versuch, eine Besatzung abzuwehren. Der Krieg dauert an und wir begreifen langsam, dass er noch Jahre dauern könnte. Durch die Nachrichten werden wir mit militärstrategischen Zusammenhängen bis ins kleinste vertraut gemacht; die Opfer des Kriegs, oft Hunderte von Toten an einem Tag, geraten aus dem Blick. Wir wissen heute durch die Traumaforschung, dass Kriege bis in die dritte Generation hinein wirken, ja, Kriegserfahrungen werden vererbt. Die Epigenetik erforscht als Wissenschaft die physiologische Weitergabe von menschlichen Erfahrungen, die soziale Vererbung von Umwelteinflüssen: Stresshormone bilden Proteine, die sich um die DNA legen und bestimmen, welche genetisch angelegten Fähigkeiten des Menschen aktiviert werden können und welche nicht. Diese Kombination von DNA und Protein-Umhüllung kann weiter vererbt werden. Das heißt auch: Kriegserfahrungen prägen uns über Generationen hinweg, bis sie sich erst langsam wieder auflösen. So wie wir wissen, welche dramatischen Folgen sexueller Missbrauch auf Kinder hat, müssen wir auch lernen, welche fürchterlichen Auswirkungen Kriegserfahrungen auf Menschen und insbesondere auf Kinder haben. In der Ukraine und in Russland sind bei dem jetzigen Krieg die Leiderfahrungen des Zweiten Weltkriegs und die Traumata durch Nationalsozialismus und Stalinismus wieder virulent geworden.

Schluss

Viele Menschen sind verunsichert und wissen oft nicht, was richtig ist. Aber diese Verunsicherung darf uns nicht lähmen. Um noch einmal auf den Hindu Mahatma Gandhi zurückzukommen: Was in der Verunsicherung helfen kann, ist Fasten und Beten. Das ist nicht als Ersatzhandlung gemeint, ganz im Gegenteil. Er hat durch Fasten und Beten die Eingebungen gefunden, die ihn zum konsequenten Handeln brachten. Im Beten und Fasten können wir den Zugang zum Leben Jesu finden und von ihm lernen, wie konsequentes gewaltfreies Handeln in seiner Nachfolge aussehen kann. Gandhi hat von Jesus gelernt und so lese ich Gedanken von ihm zur Nachfolge Jesu und zu den gewaltfreien Friedensbrigaden, den Friedensarmeen, die Gandhi ins Leben gerufen hat:

Europa hat den weisen, kühnen und tapferen Widerstand Jesu von Nazareth als passiven Widerstand missdeutet… Als ich das Neue Testament zum ersten Mal las, fand ich nichts von Passivität oder Schwäche an Jesus in den Schilderungen, die die vier Evangelien von ihm geben. … Das Licht in mir ist klar und beständig. Es gibt keine Rettung für irgendeinen von uns außer durch Wahrheit und Gewaltlosigkeit. Ich weiß, dass der Krieg schlecht ist, ein Ur-Böses. Ich weiß auch, dass er verschwinden muss… Die Armee der Gewaltlosen handelt anders als Bewaffnete, ob im Frieden oder in unruhigen Zeiten. Sie muss kreativ sein… Es ist ihre Pflicht, alles zu versuchen, um verfeindete Menschen zu versöhnen…

Gewaltfreien Widerstand gegen den Krieg kann man lernen, und Christinnen und Christen verfehlen ihren Auftrag der Nachfolge Jesu, wenn sie diesen Widerstand nicht einüben und organisieren. Der „Friede der Welt“ wird durch Waffengewalt hergestellt, der Friede Jesu ist ein anderer (Joh 14,27):

Zum Abschied schenke ich euch Frieden: Ich gebe euch meinen Frieden. Ich gebe euch nicht den Frieden,wie ihn diese Welt gibt. Lasst euch im Herzen keine Angst machen und lasst euch nicht entmutigen.

Unabhängig davon, ob wir im Notfall auch den Gewalteinsatz einbeziehen oder nicht, sind wir als Christinnen und Christen alle aufgefordert, diesen anderen Frieden Jesu mit aller Kraft, mit ganzer Seele zu suchen.

Der mennonitische Theologe und Friedenswissenschaftler Fernando Enns hat es so ausgedrückt: Die Welt folgt dem alten römischen Grundsatz: Si vis pacem, para bellum – wenn du den Frieden willst, bereit den Krieg vor. Wir Christinnen und Christen sagen: Si vis pacem, para Christum – wenn du den Frieden willst, bereite Christus vor, folge ihm auf dem Weg der Gewaltlosigkeit nach.

Schließen möchte ich mit einem Gedicht der Lyrikerin Rose Ausländer, die ihr Zuhause in Czernowitz, in der Ukraine hatte. Es heißt:

SEGEN

Ich möchte euch segnen aber ich verfluche
eure Kriege
Siege und Niederlagen

und das Wort „Feind“
für ein Land
wo Millionen Menschen leben
wie in eurem Land

Ich segne die wenigen Friedfertigen
oder sind es viele und nur
Wenige machen Krieg, Krüppel
machen mich zum Feind
der Kriege
Ich segne
jedes Land.


Josef Freise ist Theologe und Pädagoge. Er war bis zu seiner Pensionierung im Februar 2017 zwanzig Jahre lang Professor an der Katholischen Hochschule NRW in Köln. Dort ist er nach wie vor mit Lehraufträgen aktiv und engagiert sich in kirchlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, darunter Pax Christi, für gesellschaftlichen Zusammenhalt und Frieden. Er wohnt in Neuwied.

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