Elmar Klink: Der Westen gegen Russland – mit Sanktionen, Waffen, Aufrüstung und Abschreckung

Von Elmar Klink.

Der Westen ist bisher nicht Kriegspartei im russisch-ukrainischen Krieg, aber er macht sich immer mehr dazu, direkt und indirekt. Im Deutschen Bundestag gab es bei der Sonderdebatte zum Krieg in der Ukraine am Sonntag eine selten gezeigte Einigkeit einer großen SPD-Grünen-FDP-Unions-Koalition und sogar von Teilen der LINKEN. Weit über 100.000 Menschen auf den Beinen zu Demonstration und Kundgebung in Berlin gegen den Krieg bei schönem Winterwetter zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule auf der Straße des 17. Juni. Manche sprechen von mehr Menschen als im Oktober 1981 im Bonner Hofgarten, als es 300.000 Teilnehmende gewesen sein sollen. Damals ging es um den Protest gegen die Nato-Nachrüstung und die Stationierung von amerikanischen Pershing-Mittelstreckenatomraketen in Deutschland, die auf Ziele in Ländern des Warschauer Paktes und der Sowjetunion gerichtet waren. Trotzdem, dass die UdSSR Westeuropa ihrerseits mit nuklearen SS-20-Raketen bedrohte. Damals sprach kaum jemand davon, dass man sich primär gegen die Sowjetunion wandte, sondern erste Protestadresse waren die USA und ihr republikanischer Präsident Ronald Reagan.

Anders heute. Viele befragte Teilnehmende waren sich einig darin, wenn auch nicht wenige offenbar mit pazifistischen Bauchschmerzen, dass man jetzt zugunsten der von Russland und ihrem Präsidenten Putin überfallenen Ukraine entschlossen auftreten müsse, notfalls auch mit deutschen Waffenlieferungen an die bedrängten Ukrainer. Diese hatte fast gleichzeitig der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungsrede im Reichstag angekündigt. Zugleich sprach er von einer Erhöhung der deutschen Verteidigungsfähigkeit im Rahmen eines einmaligen „Sondervermögens“ von 100 Milliarden Euro – ! –, die eine gewaltige Schuldenanleihe sind. Dazu käme eine sofortige Aufstockung des zuletzt ohnehin rasant wachsenden Verteidigungshaushalts Jahr um Jahr auf 2 Prozent und mehr der jährlichen Wirtschaftsleistung des BIP (derzeit ca. 1,37 %) gemäß dem Nato-Ziel von Wales 2014. Damals beschlossen unter dem unmittelbaren Eindruck der russischen Krim-Annexion im selben Jahr. Damit wird Deutschland bald den jährlichen Umfang des russischen Militäretats von ca. 66 Milliarden Dollar deutlich übertreffen. Wie weit ist man in Deutschland gekommen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und wie tief in militärische Steinzeit gesunken! Es zeichnet sich sowohl eine Art neuer imperialer West-Ost-Konflikt als auch neuer Kalter Krieg ab zwischen dem Westen, Russland und China. Eine Resolution im UNO-Sicherheitsrat zur Verurteilung der russischen Aggression scheiterte am Veto Russlands, China und zwei weitere Länder enthielten sich.

Nach aktiver deutscher Beteiligung am Kosovo-Krieg 1999 und fast 20-jähriger Teilnahme am Antiterrorkrieg in Afghanistan eine weitere schwerwiegende militärpolitische Fehlentscheidung mit noch ungeahnten Folgen. Der einflussreichste ukrainische Regierungs-vertreter in Berlin, Botschafter Andreij Melnyk, anwesend auf der Zuschauertribüne des Bundtages, wurde geradezu mit stehenden Ovationen der meisten Abgeordneten – und ohne AfD – begrüßt. Schon tage- und wochenlang hatte er massiv „getrommelt“ für deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine. Deutsche TV-Format-Talker wie Markus Lanz und Anne Will gaben ihm wiederholt für teils penetrant kritische Appell-Auftritte Gelegenheit. Die SPD-Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, bedachte er wegen ihrer Einstellung pro Gaspipeline Nord Stream 2 mit harschen Worten. Sie hatte einen Solidaritäts-Tweet mit der Ukraine abgesetzt mit einem Foto des Schweriner Landtags in den blau-gelben Ukraine-Farben. Darauf twitterte Melnyk mit dem Satz: „Die Heuchelei ist zum Kotzen, Manuela Schwesig“.

Was jahrelange politische Debatten in Parlament und politischer Öffentlichkeit nicht schafften, ein Herr Putin und ein Krieg in der Ukraine schaffen es: Deutschland selbst bei jenen, die sich bisher in dieser Hinsicht zurückhielten und Bedenken äußerten, auf noch strammeren Militär- und Rüstungskurs zu bringen. „Germany has joint the fight“, hieß es in der ausländischen Presse. Kanzler Scholz beschwor in seiner Rede in starken Worten eine „Zeitenwende“. Wohin und wozu? Die ukrainischen Streitkräfte sollen jetzt aus Bundeswehrbeständen 1.000 Panzerabwehrwaffen Typ „Milan“ und 500 Boden-Luft-Raketen Marke „Stinger“ bekommen. Mit ihnen belieferten im sowjetrussischen Afghanistankrieg die Amerikaner aufständische Mujaheddin, die sie erfolgreich gegen tieffliegende gegnerische Kampfjets und Kampfhubschrauber einsetzten. Sie können von einer Person getragen, einfach bedient und abgeschossen werden, ihr Ziel suchen sie per Lenkwaffenradar selbst. Es sind todbringende Waffen gegen einen Feind. Unklar bleibt, wer ukrainische Kämpfer an ihnen ausbildet und wie sie in die Ukraine gelangen sollen? Zumal russische Truppen viele Militärflugplätze zerstört haben und mit bewaffneten Drohnen Grenzen im Westen und Südwesten der Ukraine (Polen, Slowakei, Ungarn) überwachen, denn allenfalls dieser Landweg käme für einen Transit des Transports in Frage. Werden deutsche Militärausbilder in die Ukraine geschickt? Oder ist solches bereits früher geschehen?

Die Friedensbewegung in Deutschland machte sich einst stark für das Ziel „Frieden schaffen ohne Waffen“. Jetzt lautet die Devise wieder „Frieden“ schaffen mit immer mehr Waffen. Ein Demo-Teilnehmer in Berlin drückte das mit einem simplen Vergleich aus. Es wäre, wie wenn jemand zehn Hosen hätte und dann müsste es noch eine mehr sein. Es ist weitgehend eine Propaganda-Mär, derer, die noch mehr wollen, die Bundeswehr sei weithin „schlecht“ und „unzureichend“ ausgerüstet. Sie verfügt über modernste Kampfjets, modernste Militärtransporter, modernste Kampfhubschrauber, modernste Panzer, modernste Panzerspähwagen und Radfahrzeuge, modernste Fregatten, Korvetten und U-Boote, gut ausgebildete Soldaten mit modernster elektronischer Kampfausrüstung. Spezialisten im Töten. Die derzeitige SPD-Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestags, Eva Högl, ist in dieser Hinsicht mit ihrer alarmistischen Kritik der Lage des Militärs eine notorische Übertreiberin. Natürlich möchte jeder Bundeswehrinspekteur das Beste an Personal und Material und jederzeit verfügbar haben.

Der „Abrüstungs- und Verkleinerungstrend“ aus den 1990er und ersten 2000er Jahren aufgrund der Folgen des Endes der Blockkonfrontation und des Wettrüstens (sog. Friedensdividende), ist längst umgekehrt. Das letzte „Weißbuch der Bundeswehr“ von 2016 hat die Maßgaben für eine „Neuausrichtung“ formuliert und zu ergreifende Schritte dahin festgelegt, die seither umgesetzt werden. Und zwar mit primärer Perspektive auf Landes- und Bündnisverteidigung. Den Militärhaushalt erhöhte man dazu seit 2010 von etwas mehr als 30 Milliarden auf aktuell etwa 59 Milliarden Euro. In nur 10 Jahren um fast das Doppelte! Wofür wurde das ganze Geld ausgegeben? Im Zuge der Abschaffung der Wehrpflicht 2011 verkleinerte man die gemischte Truppe aus Männern und Frauen zwar von 500.000 um gut die Hälfte, effektivierte sie aber zugleich als Freiwilligen- und Berufsheer. Spezielle Operationskräfte wie die wegen rechtsextremen Verdachts umstrittene KSK-Truppe wurden aufgestellt, die in Afghanistan operierte. Die Deutschen führen mit gerade aufgestockt auf etwa 800-1.000 Soldaten die 1.500 Mann starke Nato-Battlegroup in Litauen an. Viele Kontingente befinden sich noch in Auslandseinsätzen, das größte derzeit in Mali in der Sahelzone. Deutschland schickte eine eigene Fregatte „Bayern“ auf Kanonenboot-Tour auf große Fahrt in den Indo-Pazifik, die u. a. in Japan Station machte, an Manövern mit den Marinen von USA, Südkorea, Taiwan und Australien teilnahm und jüngst von ihrer Demoreise nach Wilhelmshaven zurückkehrte. Das sind nur einige die Mär widerlegende Fakten.

Mit Hilfe des Ukraine-Kriegs und der „Bedrohung“ durch den Usurpator Putin wird die Bevölkerung hierzulande gezielt in ihrem „Verteidigungswillen“ für mehr Militär trainiert und manipuliert. Noch vor kurzem waren laut ZDF-Politbarometer vom 11. Februar 75 Prozent der Befragten gegen deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine. Ändert sich Volkes Meinung so schnell? Als kämen den hiesigen Militär-Falken diese Umstände gerade recht. So ertönt auch aus dem Deutschen Bundeswehrverband (DBWV) der Ruf nach Sofortmaßnahmen für die Truppe als Reaktion auf den Ukraine-Krieg. Der DBWV-Vorsitzende, André Wüstner, forderte ein „Sofortprogramm“ zur Verbesserung der Ausrüstung der Truppe und eine weitere Aufstockung des Verteidigungsetats. „Warten ist nicht mal mehr die zweitbeste Option“, so Wüstner forsch am Sonntag im ZDF-Morgenmagazin. Und weiter stellte er fest: „Wir haben im Bereich Munition, Fahrzeuge, Schiffe, Flugzeuge, Ersatzteile massive Probleme“ und forderte, die Politiker müssten jetzt „endlich aufwachen“. Als solchermaßen „Erwachte“ präsentierten sich viele Parlaments-redner vor allem aus CDU/CSU in der Aussprache im Anschluss an Scholz‘ Aufrüstungs-Brandrede.

Einfache schematische Darstellung der gegenseitigen Vernichtung zweier Atommächte A und B.

„Wechselseitige Zerstörung und wechselseitiger Selbstmord“. Luftkrieg mit Atomwaffen: Schema der gegenseitigen Vernichtung. Autor: Stefan T. Possony, Spezialist für militärische Aufklärung im Hauptquartier der US-Luftwaffe, 1954.

Noch eins drauf an Bedrohungs-Rhetorik setzte Präsident Putin mit seiner Maßnahme, seine „Abschreckungskräfte“ in erhöhte Alarmbereitschaft zu versetzen, die er in einem im Fernsehen übertragenen Gespräch mit hochrangigen Militärvertretern erörterte. Dies kann natürlich kaum auf die Kriegssituation in der Ukraine gemünzt sein. Es ist eine klare Warnadresse an den Westen und die Nato. O-Ton Putin: „Ich weise den Verteidigungsminister und den Generalstabschef an, die Abschreckungskräfte der russischen Armee in besondere Kampfbereitschaft zu versetzen“. Diese Kräfte umfassen neben einem massiven Arsenal an ballistischen Raketen auch Atomwaffen. Die Gefahr, dass es dabei zu einem Fehlverhalten und Irrtum seitens russischer Raketen-Kommandeure kommen könnte, ist nicht unerheblich, gerade in einer so aufgeheizten Stimmung wie gegenwärtig.

Es zeigt, wie nervös Putin agiert und auf verhängte Sanktionen wie auch westliche Truppenverstärkungen reagiert, angesichts der Tatsache, dass seine Kriegsoffensive nicht so vorankommt, wie er sich das vorstellt. Die russischen Streitkräfte stoßen offenbar weiter auf erheblichen Widerstand ukrainischer Truppen, die ihr Land und ihre Städte natürlich besser kennen. So wurde die zweitgrößte Stadt Charkiw (1,4 Mio. Einw.) in der Nordost-Ukraine offenbar nach vorübergehender russischer Einnahme in heftigen Straßenkämpfen wieder zurückerobert. Ein System von paramilitärischen Milizen der Ukrainer etabliert sich immer mehr. Teilweise kontrollieren sie wichtige Ausfallstraßen und organisieren den örtlichen Widerstand. Zivilisten, die sich ihnen anschließen, stellen Batterien von Molotow-Cocktails her. Die Streitkräfte Selenskyjs konzentrieren sich offenbar auf den Großraum Kiew sowie andere größere Städte statt eines Mehrfrontenkriegs, in dem sie von vorne herein unterlegen wären. Leidtragende sind natürlich die vielen Menschen, die in Schutzräumen Zuflucht suchen oder wer kann das Land fluchtartig Richtung Westen verlassen, oft zu Verwandten oder Freunden in angrenzenden Ländern. Es sollen laut UN bereits über 300.000 sein, die unterwegs oder schon außer Landes sind. Erwartet werden jetzt von den Vereinten Nationen bis zu 7 Millionen. Vor allem kleinere Kinder werden jenseits der Grenzen in Sicherheit gebracht. Es ist ein traurig-anrührendes Bild, wenn sie bei ihrer Ankunft aus Bussen aussteigen, warm gekleidet mit Mänteln und Zipfelmützen, ihre Stofftiere unterm Arm und kleine Ränzchen auf dem Rücken.

Schließlich noch die Frage der Sanktionen. Die USA, Kanada, Frankreich, Großbritannien, Italien, EU und Deutschland haben Russland jetzt vom S.W.I.F.T.-Verbund (Society for Worldwide International Financial Telecommunication) abgekoppelt. Swift ist ein Kommunikationssystem und dient dazu, dass sich weltweit 11.000 Banken über Grenzen hinweg über Zahlungsströme informieren. Deutschland beteiligt sich an der Finanz-Blockade Russlands in einer etwas abgespeckten Version, so dass Zahlungsabwicklungen etwa im Gasgeschäft noch stattfinden können, da russisches Gas weiter geliefert wird. Gelichzeitig kündigte Kanzler Scholz in seiner Rede als Folge der Abhängigkeit von russischem Gas den Bau von zwei Flüssiggas-Terminals (LNG) in Brunsbüttel und Wilhelmshaven an.

Deutschland und der Westen müssen hinsichtlich der Sanktionen und ihres Militäraufmarsches in Osteuropa auf der Hut sein vor russischen Kurzschlussreaktionen, die sich in der aufgeheizten Stimmung leicht ergeben könnten. Statt sich in Szenarien eines militärisch-politisch-wirtschaftlich-psychologisch-ideologischen „Fünfkriegs“ zu verwickeln, sollte Krieg und Kriegshilfe grundsätzlich der Ächtung unterliegen. Zivilität und Zivilismus sind nach wie vor das Gebot der Stunde. Das Bild der einander nahezu einmütig beklatschenden Abgeordneten im Deutschen Bundestag am Sonntag geht einem nicht so schnell aus dem Kopf. Deserteure beschimpfte man im und nach dem Zweiten Weltkrieg als „Verräter“. Der letzte, 2018 im Alter von 96 Jahren verstorbene Wehrmachts-Deserteur, der Bremer Ludwig Baumann, kämpfte über 20 Jahre für seine Rehabilitierung. Er verstand sich als „Kriegsverräter“ und prägte den Ausspruch, „Kriegsverrat ist Friedenstat“.


Wir bedanken uns für das Recht, diesen Text zu veröffentlichen, bei Elmar Klink, Bremen. Der Verfasser, Jg. 1953, ist Kriegsdienstverweigerer seit 1971, leistete 1976/77 beim Sozialen Friedensdienst Zivildienst in der Kindergarten- und kirchlichen Jugendarbeit und engagiert sich seit über 45 Jahren aktiv in der Umwelt- und Friedensbewegung. Ferner erschienen von ihm seit 8./9. Februar die Texte – „Kiew: Gebt uns Waffen! Ein friedenspolitischer Kommentar zum Ukraine-Problem“; – „Leichte Entspannung in der Ukraine-Krise? – wer miteinander redet, schießt nicht. Der robuste friedenspolitische Kommentar, Teil II“; – „Putin legt offen und überspannt den Bogen. Eine psycho-politische Einschätzung der neuen Lage in der Ukraine“; – „Kriegs-Fanal in der Ukraine. Eine nüchterne Sicht der Dinge und ein Plädoyer trotz allem für Gewaltfreiheit“. Alle Texte können als Online-doc-Dateien angefordert werden bei: Elmar.Klink@gmx.de

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