Stefanie Intveen: Gemeinsam für eine friedliche Zukunft. Zum 75-jährigen Kriegsende
Von Stefanie Intveen.
Vor dreißig Jahren, im Mai 1990, 45 Jahre nach Kriegsende, befand ich mich als Kölner Studentin zu einem Auslandssemester in Wolgograd, der neuen Partnerstadt Kölns. „Glasnost“ und „Perestroika“ hatten politische und kulturelle Freiheiten gebracht, aber die schwere Wirtschaftskrise nicht beseitigt. Auch wir Auslandsstudenten erhielten Lebensmittelmarken für den Bezug von Mehl, Fett, Zucker, Fleisch. Die Regale in den staatlichen Lebensmittelgeschäften waren oft leer. Daran erinnere ich mich, wenn ich heute in den Supermarkt in der Nähe meiner Kölner Wohnung gehe und mich wundere, dass die Versorgungslage aufgrund der CoViD-19-Krise immer noch schlecht ist: seit Wochen sind Kaffee, Nudeln, Reis, Mehl, Zucker, Toilettenpapier und Seife rationiert und oft genug nicht vorrätig.
In Wolgograd arrangierten wir uns schnell mit der ungewohnten Situation. Wir waren als Besitzer von Devisen geradezu reich und konnten mühelos auf dem Kolchosmarkt oder im „Berjoska“ einkaufen. Die einheimischen Kommilitonen hatten wenig Geld und wurden von ihren in den umliegenden Dörfern lebenden Familien unterstützt. Sie halfen uns Ausländern, wo sie konnten, interessierten sich für unsere Erzählungen über Westdeutschland und führten uns in die Wunderwelt ihrer Feierkultur ein. Trotz der tiefen Krise, die nur wenig später in den Zerfall der Sowjetunion mündete, hatten wir eine herrliche Zeit.
Beim Zusammensein mit unseren neuen Wolgograder Freunden und Bekannten half uns sehr, dass die bundesdeutsche Gesellschaft nach harten Auseinandersetzungen eine ziemlich klare Vorstellung von der Art und dem Ausmaß der Verbrechen der NS-Zeit gewonnen hatte. Wir waren gut vorbereitet auf den Aufenthalt in der Stadt, die die Wehrmacht 1942/1943 bei dem vergeblichen Versuch, zu den kaukasischen Ölgebieten durchzustoßen, verwüstet hatte. Uns Kriegsenkeln war die deutsche Kriegsschuld klar; wir wussten, dass daraus eine Verantwortung für die Zukunft erwuchs – nicht als Buße für „ererbte Sünden“, sondern als einzig vernünftige Schlussfolgerung aus den historischen Massenverbrechen.
Am 8. Mai 1985 hatte Bundespräsident Richard von Weizsäcker vor dem Deutschen Bundestag erklärt:
Wir lernen aus unserer eigenen Geschichte, wozu der Mensch fähig ist. Deshalb dürfen wir uns nicht einbilden, wir seien nun als Menschen anders und besser geworden. Es gibt keine endgültig errungene moralische Vollkommenheit – für niemanden und kein Land! Wir haben als Menschen gelernt, wir bleiben als Menschen gefährdet. Aber wir haben die Kraft, Gefährdungen immer von neuem zu überwinden.
Die Rede bildete einen gesellschaftlichen Grundklang der 1980er Jahre ab; dieses Fundament trägt viele von uns bis heute.
Hochmut ist fehl am Platz. Die CoViD-19-Pandemie und die politischen Reaktionen darauf zeigen beispielhaft, wie ähnlich wir Menschen uns sind, wie verletzlich und unvollkommen. Selbst im reichen Deutschland ist die Grundversorgung nicht selbstverständlich; auch hier werden Grundrechte eingeschränkt. Zusammenarbeit im Sinne eines globalen Gemeinwohls ist nun notwendig, um die sich absehbar verschärfenden Gegensätze und Notlagen zu mildern.
Auch andere Risiken machen vor Ländergrenzen nicht Halt: Klimawandel, Artensterben und Atomkrieg bedrohen das menschliche Leben insgesamt. Wir selbst können aber das Ausmaß der Bedrohungen verringern. Die Pandemie zeigt, zu welch drastischen Verhaltensänderungen menschliche Gesellschaften fähig sind, wenn sie sie für notwendig erachten. Heute, 75 Jahre nach Kriegsende, können wir den Blick auf das Verbindende richten und unsere Kraft für eine gemeinsame friedliche Zukunft einsetzen. In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen guten 8. und 9. Mai!