Krieg jetzt auch bei uns? Wandgemälde holt ferne Wirklichkeit nach Köln
Von Stefanie Intveen. Wer in Köln-Nippes von der Haltestelle Neusser Straße / Gürtel aus Richtung Innenstadt läuft, muss vielleicht zweimal hinschauen, um zu erfassen, was sich dem Blick bietet. Ist der Krieg jetzt auch zu uns gekommen? Eine Nanosekunde lang könnte der Gedanke aufblitzen.
Aber nein, kein Brandgeruch, kein Dröhnen der Düsenjäger, keine Bombenexplosion. Es ist nur ein Wandgemälde, das die fensterlose Seitenwand eines mehrstöckigen Wohnhauses bedeckt. Es verbindet die hellblau verputzte Straßenfassade des Hauses bildlich mit den zerschossenen Ruinen mehrstöckiger Wohnhäuser in einer fernen, einer anderen Stadt. Ein schwer bewaffnetes Kampfflugzeug mit düsterem Cockpit scheint im Tiefflug über die Ruinen auf den Betrachter zuzuschießen, darunter brennt ein Autowrack. Die echten Fahrzeuge stehen gleich daneben auf dem Parkstreifen an der Neusser Straße.
Wie lange dauert es, ein Haus zu bauen? Wie lange braucht ein Kampfbomber, um es in einen Haufen Schutt zu verwandeln? Jeder Mensch in Köln hat die Fotos der zerschossenen Stadt am Endes des letzten Kriegs im Kopf. Der Luftkrieg gegen Städte war ein Kriegsverbrechen; er ist es auch heute.
Das Wandgemälde zeigt nicht nur den Bombenkrieg gegen ein Wohngebiet; es ist viel größer. Grafisch in vier Bereiche unterteilt zeigt es im oberen Teil ein Schlauchboot voller Menschen in orangefarbenen Rettungswesten. Das Boot verwandelt sich rechts in den Bug einer schicken Jacht, auf dem ein freundlicher dickbäuchiger Herr mit grauem Schnauzbart in Frack und Zylinder munter Geldscheine zu den aus der Ferne heranfliegenden Kampfjets in die Luft wirft. Die Flüchtenden im Schlauchboot hinter sich sieht er nicht, denn er schaut in die andere Richtung. Neben der Jacht treiben die Geldscheine im Meer, neben dem Schlauchboot die Rettungswesten. Während die Ruinen der bombardierten Stadt im Bildbereich unter dem Schlauchboot sind, ragen unterhalb der Jacht die Glitzerfassaden einer reichen Finanzmetropole empor – sie erinnern an London, Frankfurt oder Manhattan.
Die beiden Sphären, die der Armut und Schutzlosigkeit auf der linken Bildhälfte und die des Überflusses und der Sicherheit auf der rechten Seite sind miteinander verknüpft – durch das Meer, durch die Stadt, durch die Ähnlichkeit des Zylindermenschen und der Flüchtenden im Boot; und auch durch die kreisförmig heranfliegenden, alles verbindenden Kampfjets, die ihren Schub aus dem Geld des Zylindermannes zu nehmen scheinen.
Das Gemälde ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit von zahlreichen Personen: die Prowo GmbH besitzt das Nutzungsrecht für die Hauswand und übernahm die Kosten, ihr Geschäftsführer Herman Haver entwickelte die Idee, auf ihr ein sozialkritisches Kunstwerk zu schaffen, die Leiterin der an das Gebäude angrenzenden Peter-Ustinov-Realschule Susanne Braun unterstützte die Idee und ihre Umsetzung, die Schüler und Schülerinnen des Kunstkurses der Abschlussklasse im Sommerhalbjahr 2018 wählten unter Anleitung des Kunstlehrers Alfred Niessen und der Künstlerin Mandana Mesgarzadeh die Themen aus und entwarfen die Bestandteile des Gemäldes. Die Übertragung der Entwürfe auf die Wand übernahm Mandana Mesgarzadeh, die dabei von Ute Adler unterstützt wurde.
Die industrielle Fleischproduktion und der Fleischkonsum stehen im Zentrum eines weiteren Gemäldes, das die Schüler*innen mit Unterstützung der Künstlerinnen auf einer weiteren Wand entlang des Schulhofs verwirklichen konnten. Hier wird die Welt mit verkehrten Rollen dargestellt: es sind die Tiere, welche die Menschen am Fließband zu „Menschenbällchen frisch abgepackt 340g“ verarbeiten.
Einen Wechsel der Perspektive möchte man auch dem Zylindermann in der Jacht auf dem ersten Gemälde empfehlen: wenn er sich doch nur einmal nach den Menschen im Schlauchboot umschauen würde!